Wie der Staat und die Gesellschaft beim Schutz der Schwächsten Hand in Hand versagen.
Es geht wieder los, der Mindestlohn soll im Januar 2026 steigen. Regelmäßig poppen in Talkshows, an Stammtischen und sogar an Essenstischen unwürdige Debatten wie überhitztes Popcorn auf.
Wer das bezahlen soll, wie die Industrie das überleben soll und natürlich: dass die Preise steigen würden.
Bemerkenswert ist, wie oft dieser Vorwurf gerade dann kommt, wenn der reich gedeckte Tisch oder die üppige Essensbestellung den Wohlstand der Zornigen sichtbar macht.
Dabei schwingt immer ein Vorwurf mit: Wie ungerecht das alles gegenüber den angeblich Leistungsfähigeren sei. Mit letzterem werden von Gutverdiener:innen gerne zwei Jobs gegeneinander ausgespielt, in denen früher beide Arbeitnehmer:innen ausgebeutet wurden.
Das nennt man Status-Quo-Arroganz.
Und mit vollem Mund soll man gar nicht sprechen…
Die Falschen führen die Debatte
In Talkshows reden jene über Mindestlohn, die weder davon leben müssen noch verstehen, was dieser Lohn bedeutet. Sie diskutieren abstrakte „Wettbewerbsfähigkeit“, „Standortfragen“ und „Belastungsgrenzen“.
Die Betroffenen sitzen natürlich nicht mit an den Tischen. Sie sitzen an Kassen, in Lagerhallen, in Küchen, im Transporter oder auf dem Feld. Und wenn sie servieren, dürfen sie sich dann Sätze anhören wie:
„Warum soll ein Lagerhelfer plötzlich fast so viel verdienen wie Staplerfahrer:innen? Wie soll man das jemandem erklären, der einen Staplerschein hat?“
„Warum soll eine Spülhilfe so viel verdienen wie eine Servicekraft? Wie soll man das jemand erklären, der Verantwortung für die Kasse hat?“
Gütiges FSM…
Die einfache Antwort wäre: Man zahlt den Staplerfahrer:innen und Servicekräften einfach mehr.
Stattdessen folgt das altbekannte Mantra von Kosten, Wettbewerb und im gleichen Atemzug das Klagen darüber, dass man keine Leute mehr findet.
Dabei wird unterschlagen: Lagerarbeit ist ein Knochenjob. Schichtsystem, Hitze, Kälte, Akkord. Ohne Lagerhelfer:innen wäre kein Warenfluss möglich, kein Regal voll, kein Onlineshop lieferfähig. Trotzdem werden sie behandelt, als seien sie austauschbar oder Hilfskräfte ohne Wert.
Dieser Gerechtigkeitssinn ist gespielt. Es ist werten von oben, aus einer bequemen Position. Oft sogar aus einer, die für genau dieses Personal Verantwortung trägt. Das Erschütternde daran: Die „Leistungsfähigkeit“ dieser Leute beruht exakt auf dem Rücken derer, über die sie herziehen.
Sorry. Das ist bornierte Missgunst.
Und es wird noch grotesker
Bei genauerer Betrachtung ist es nicht unüblich, dass einige aus der älteren Generation in ihre gut situierten Jobs quasi „reingewachsen“ sind. Ihr hohes Einkommen vielleicht gar nicht so an ihren tatsächlichen beruflichen Leistungen geknüpft ist, wie sie es gerne am Tisch vermitteln.
Gleichzeitig merken einige dieser selbsternannten Leistungsträger nicht, dass ihre eigene Position genauso fragil ist. In einer Arbeitswelt, in der Menschen nur noch Kostenstellen sind, frisst die Rationalisierung irgendwann auch diejenigen, die sich für unantastbar halten.
Dann tauchen sie wieder auf, die großen Worte:
Gerechtigkeit, Anerkennung, Respekt.
Alles Dinge, die vorher – bei anderen – angeblich „zu teuer“ waren. Und sobald es um das eigene „Ich“ und „Mein“ geht, werden genau diese Menschen plötzlich aggressiv und laut.
Der blinde Fleck der Besserverdienenden
Die hitzige Empörung über steigende Lohnkosten bei Geringverdienern offenbart bei einigen Menschen einen erstaunlichen blinden Fleck der Status-Quo-Arroganz:
Die eigene, oft prozentual höhere, Gehalts- oder Bonuserhöhung wird als gerechtfertigte Anerkennung individueller Leistung und marktgerechte Notwendigkeit betrachtet und wird damit psychologisch immun gegen den Vorwurf der Inflationstreiberei gemacht
Die Hauptverwechslung ist damit die selbstverortete Leistungsfähigkeit der gut situierten Besserverdienenden, die ihre eigene Gehaltserhöhung nie als Kostentreiber sehen, aber jede faire Anpassung unten sofort als „Inflation“ brandmarken.
Ihre Lohnerhöhung heißt „Anerkennung“. Die der anderen heißt „Belastung“. Das eigene Plus ist verdient, das fremde Plus ist eine Zumutung.
Dieser Denkfehler ist manchmal so tief eingegraben, dass er als Naturgesetz wahrgenommen wird – dabei ist er nichts anderes als moralischer Komfort im schicken Gewand der Selbstgerechtigkeit.
Die Lohnerhöhung der Mindestlohnbezieher:innen hingegen wird zudem als externe, staatlich verordnete Kostenlast und somit als ursächlicher Preisschock an der Supermarktkasse wahrgenommen.
Hier manifestiert sich deutlich sichtbar ein moralischer Doppelstandard: Die eigene Steigerung dient der Abfederung von eigenen Kosten; die Steigerung der Schwächsten verursacht sie.
Solange die gesellschaftliche Mitte die eigene Lohndynamik vom allgemeinen Preisdruck abkoppelt, bleibt der Mindestlohn der bequeme Sündenbock für ein Versagen, das strukturell viel tiefer, nämlich im unkontrollierten Fixkostenanstieg und in der ungerechtfertigten Gewinnmarge, liegt.
Hinzu kommt eine Diskrepanz, die so alltäglich ist, dass kaum jemand sie bemerkt …
Die Prozentgerechtigkeit
Wer 5 % mehr Lohn bekommt, freut sich über eine scheinbar faire Anpassung.
5 % von 4.000 Euro sind 200 Euro –
5 % von 2.300 Euro sind nicht einmal 120 Euro.
Gleiche Prozente, völlig ungleiche Wirkung.
Diese Prozentlogik stabilisiert Ungleichheit, weil sie automatisch die stärkt, die ohnehin schon weiter oben stehen. Viele Menschen, die von diesem Mechanismus profitieren, argumentieren dann gerne, ein höherer Mindestlohn würde alles teurer machen.
Wenn Mindestlohn nur noch Deckmantel ist
Der Schuldige ist daher schnell gefunden: der Mindestlohn. Ein bequemes Narrativ, das verschleiert, wo die wahren Ursachen liegen und wie sehr Politik seit Jahren ihrer Verantwortung ausweicht.
Es zeigt allerdings auch, wie sehr ein Teil unserer Gesellschaft bereits verroht ist.
Eine Mitte, die ihre eigene Komfortzone moralisch absichert, während sie die Lebensrealität jener abwertet, deren Arbeit ihre Privilegien überhaupt ermöglicht.
Was wir hier sehen, ist auch eine Form der Wohlstandsverwahrlosung. Eine Haltung, die den eigenen Wohlstand als verdient verklärt, während sie die Bedürfnisse der Schwächeren als überzogen oder störend abqualifiziert.
Diese Haltung zeigt sich nicht in komplexen Argumenten, sondern in alltäglichen, beiläufigen Sätzen – den kleinen Giftpfeilen der Selbstgerechtigkeit:
„Dann sollen sie nicht so viel unnötiges Zeugs konsumieren.“
„Ich brauche auch nicht immer neue Möbel oder TVs.“
(in einem Eigenheim, wohlgemerkt)
Auch schön, wenn tatsächlich weiter gedacht wird:
”Sie müssen ja dann durch Preiserhöhungen auch mehr an der Kasse zahlen“
Wow … welch Fürsorge
Wenn dieser knorpelige Zynismus in die weißen Servietten gehustet wurde, kommt irgendwann der Sprung z.B. zu Erntehelfer:innen
Das Lieblingsdessert derer, die sich für pragmatisch halten:
„Die leben billig, darum sollen sie auch billiger arbeiten.“
Dieses Argument taucht fast in jeder Mindestlohndebatte zuverlässig auf – und klingt für viele sogar plausibel. Bis man eine Sekunde darüber nachdenkt.
Die Aussage lautet übersetzt:
„Weil du aus dem falschen Land kommst, darfst du hier weniger wert sein.“
Es ist ein Argument, das nur funktioniert, wenn man Herkunft wichtiger nimmt als Menschenwürde. Und es ist aus vier Gründen kompletter Unsinn:
Moralisch: Herkunft bestimmt nicht den Wert eines Menschen.
Ökonomisch: Erntehelfer:innen leben während der Saison hier und zahlen hier.
Rechtlich: Mindestlohn gilt ohne Ausnahme.
Gesellschaftlich: Billige ausländische Arbeitskräfte drücken alle Löhne nach unten.
Kurz gesagt: Wer hier arbeitet, wird nach hier bezahlt. Punkt.
Aus der Sicht derjenigen, die vom Mindestlohn leben
Zahlen zeigen Fakten:
Aktuell (2025):
12,82 € × 160 Std. = 2 051,20 € brutto
Ab 1. Januar 2026:
13,90 € × 160 Std. = 2 224,00 € brutto
Ab 1. Januar 2027 (geplant):
14,60 € × 160 Std. = 2 336,00 € brutto
Wer aktuell 12,82 € verdient, gibt davon rund 2,60 € pro Stunde direkt an den Staat ab: Lohnsteuer, Rente, Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung.
Übrig bleiben knapp 10,20 € netto.
Selbst dieses Geld ist nicht frei: 19 % Mehrwertsteuer, Energieabgaben, Grundgebühren, Nebenkosten.
Unterm Strich gehen 40–50 Cent jedes verdienten Euros sofort wieder zurück in Staat und Sozialkassen.
Wer 160 Stunden arbeitet, erwirtschaftet über 800 €, die gar nicht bei ihm bleiben.
Ironisch: Die Regierung rühmt sich, Menschen durch den Mindestlohn zu „entlasten“, profitiert aber selbst am stärksten davon.
Mindestlohn als Sündenbock
Er wurde eingeführt, um Ausbeutung zu verhindern. Als unterste Grenze für ein Leben in Würde. Diese Untergrenze wird ständig infrage gestellt – besonders in:
– Landwirtschaft
– Pflege
– Gastronomie
– Logistik
Die absurde Forderung, ausländische Erntehelfer:innen nur zu 80 % zu bezahlen, ist ein Beispiel dafür. Argument: „Sonst seien regionale Produkte nicht konkurrenzfähig.“
Damit würde ein Zwei-Klassen-System geschaffen, das Lohnrechte vom Pass abhängig macht.
Politisch unanständig. Juristisch nicht haltbar.
Dass solche Vorschläge dennoch auftauchen, zeigt, wie selbstverständlich Grundrechte geopfert werden sollen. Zugunsten billiger Preise.
Die eigentliche Macht: Discounter und Großhandel
Der Preisdruck entsteht nicht im Feld, nicht im Stall, nicht in der Küche.
Er entsteht im Handel.
Handelskonzerne diktieren Preise, Lieferbedingungen und Margen. Der Staat schaut weg oder verteilt Subventionen, die das System stabilisieren. EU-Agrarförderungen fließen zu großen Teilen in Großbetriebe. Kleine Höfe bleiben auf der Strecke – und der Druck landet wieder bei den Löhnen.
Ohne Erntehelfer:innen gäbe es schlicht kein Gemüse. Punkt.
Keine Tomaten, die sich Gutverdienende nach Glanzgrad sortieren, keine Paprika im Dreierpack, kein „regional & frisch“-Gehabe.
Diese Menschen sichern die Grundversorgung und trotzdem diskutiert man ernsthaft darüber, ob sie weniger verdienen sollen, nur damit andere sich billige Preise leisten können.
Das ist moralischer Bankrott in Reinform.
Dienstleistungen im Prekariat
Pflege: Ohne osteuropäische Kräfte bricht das Pflegesystem zusammen.
Logistik: Fahrer:innen in Subunternehmerketten, Schlafen im LKW, permanenter Druck.
Gastronomie: Geschäftsmodelle, die jahrelang auf Ausbeutung basiert haben.
Wenn der Mindestlohn steigt, kollabiert nicht die Branche, es kollabiert das alte Geschäftsmodell: Ausbeutung.
Politisches Wegsehen
Die Politik müsste:
– faire Preise durchsetzen
– Marktmacht im Handel begrenzen
– Arbeitszeit- und Sozialgesetze kontrollieren
– Miet- und Energiepreise ernsthaft deckeln
Doch sie kneift – aus Angst vor Wählerzorn oder Lobbydruck.
Fixkosten fressen den Mindestlohn auf
Fragt man Mindestlohnbezieher:innen, ob sie lieber 100 € mehr Lohn oder 200 € weniger Miete/Nebenkosten hätten, ist die Antwort eindeutig.
Höhere Löhne verpuffen, wenn Fixkosten explodieren, besonders beim Wohnen, wo Mieten schneller steigen als Einkommen.
Und wenn der Mindestlohn sinkt oder ausgehöhlt wird? Dann zahlt der Staat drauf. Über Bürgergeld, Wohngeld und sonstige Zuschüsse.
Niedriglöhne werden am Ende von allen subventioniert. Unternehmen sichern Gewinne, die Allgemeinheit gleicht Einkommen aus.
Fazit
Der Mindestlohn ist kein Inflationstreiber. Ihn als Schuldigen zu deklarieren, ist eine Nebelkerze in einer Debatte, die sich vor den wahren Problemen drückt. Er zeigt lediglich das Symptom eines tiefer liegenden gesellschaftlichen und politischen Defekts.
Menschen in schwächeren Positionen zahlen die Zeche doppelt:
1. am Arbeitsplatz
2. an der Kasse
Das eigentliche Problem sind nicht die Preise im Discounter – solange niemand Edelware kauft –, sondern die explodierenden Fixkosten für Wohnen, Energie und Gesundheit.
Der wahre Grund, warum Essen, Gastronomie und Pflege teuer werden, liegt im jahrzehntelangen politischen Versagen: Billigpreise über Menschenwürde zu stellen.
Die Frage ist nicht, ob Deutschland sich faire Löhne leisten kann. Die Frage ist, ob Deutschland sich leisten will, strukturelle Ungerechtigkeit weiterzubetreiben. Zulasten jener, die das Land wirklich am Laufen halten.
Die Rechnung landet immer irgendwo.
Entweder wir zahlen an der Kasse – oder andere zahlen mit ihrer Gesundheit und Würde.
Sie dürfen nun wählen: Guten Appetit.

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