„Wissenschaft ist mehr als ein Wissenskorpus; sie ist eine Denkweise, eine Art, das Universum skeptisch zu hinterfragen und dabei die menschliche Fehlbarkeit nicht ausblendet.“ – Carl Sagan
Wenn Klarheit auf Menschen trifft
ChatGPT, Gemini und Google sagen: Zwei plus zwei ist vier. Eindeutig.
Na … gerade kurz gezuckt?
Mini-Schluckauf bekommen, weil drei „Automaten“ etwas behaupten und du es einfach übernimmst?
Macht nix …
Wir lassen uns manchmal unsere Synapsen verkleben. Weil z. B. nur der Überbringer uns misstrauisch macht. Weil uns das Ergebnis einer einfachen Mathematikaufgabe plötzlich fremd vorkommt, sobald es von einem Softwaresystem stammt, das wir vielleicht nicht durchschauen.
Und weil wir zusätzlich reflexhaft denken:
„Hm … kann ja halluziniert sein“ – einfach, weil wir wissen, dass es passieren könnte.
Ein schwaches Misstrauen und ein berechtigtes Misstrauen verschmelzen – und plötzlich zweifeln wir selbst an universeller Logik. Genau so entstehen diese kleinen und größeren mentalen und ambivalenten Stolperer, die jede Klarheit weich machen können.
Fakten verwandeln sich in Gefühle, unangenehme Wahrheiten werden weggedämpft.
Dennoch: Bei 2 plus 2 wissen wir, den eventuellen Stolperer können wir locker abfangen …
Der Unterschied zwischen Wissen und dem Vertrauen, dass dieses Wissen stimmt
Die wissenschaftliche Lage ist manchmal eindeutig, die Realität sichtbar – und trotzdem leben viele in Blasen, die das Unbequeme herausfiltern. Nicht aus Bosheit, sondern aus Selbstschutz.
Glaubt niemand?
ChatGPT, Gemini und Google sagen: Der menschengemachte Klimawandel ist eindeutig. Ihr müsst handeln!
Wenn man ehrlich genug ist, kann man zugeben, dass mehr oder weniger Synapsen gerade aufgeschrien haben.
Das ist nicht tragisch. Die Anzahl der brüllenden Synapsen bestimmt schlicht, welche Denkmuster sich danach durchsetzen und damit auch, wie offen oder ablehnend wir wissenschaftliche Erkenntnisse und persönliches Handeln gestalten oder wahrnehmen. Wie wir die Kosten der Wahrheit bezahlen.
Wenn die KI z. B. über Quantenphysik geredet hätte, hätten wir dennoch weniger Probleme, ihre Wissensvermittlung anzunehmen.
Komisch, gell?
Quantenphysik ist abstrakt und hat keine unmittelbare Handlungsaufforderung und keine Konsequenz. Daher akzeptieren wir die KI als neutralen Wissensvermittler.
Es ist an dieser Stelle auch müßig, Zweifler und Leugner des menschengemachten Klimawandels zu überzeugen. Es ist die Gruppe, die an dieser Stelle längst ausgestiegen ist und auf Facebook über den Klimawandel die sattsam bekannten Statements reinkopiert. Dort lebt keine Logik mehr, sondern ein Cocktail aus Überforderung, Wut und Identitätsverteidigung. Jede Leugnung oder Verharmlosung wird frenetisch beklatscht, weil sie genau diese Gefühle bestätigt. Diese Klientel meine ich nicht, sie ist schlicht nicht mehr erreichbar.
Das Thema ist auch austauschbar. Ob Esoterik, Homöopathie oder Wunderwasser – für alles kann man Wissenschaft leugnen und missbrauchen.
Und das hat Gründe …
Unser Vertrauen in die Logik ist hochgradig kontextabhängig und wird durch Faktoren wie den Überbringer (Automaten) und die mögliche Konsequenz der Aussage (Handlungsbedarf) getrübt.
2 und 2 ist 4 war glasklar, das wissen wir über Bildung und aus Erfahrung. Beim Klimawandel müssen wir uns auf Wissenschaft und deren Komplexität verlassen. Die meisten von uns haben mit Wissenschaft nichts zu tun und müssen ihr und ihren Überbringer:innen vertrauen.
Und da geht’s los …
Wissenschaft spricht klar – wir hören nur unsere Echos
„Das Wertvollste, was wir besitzen, ist nicht irgendeine einzelne Erkenntnis – es ist die wissenschaftliche Methode selbst.“ – Carl Sagan
Wissenschaft zeigt, was ist: messbar, reproduzierbar und eindeutig. Während die Daten schrillen, kommt bei uns oftmals nur ein schwaches Echo an. Wir wissen, was die Lage bedeutet, aber wir spüren es nicht. Zu abstrakt, zu komplex, zu weit weg vom Alltag. Die Wissenschaft legt die Wahrheit auf den Tisch und wir legen ein selbstgehäkeltes Tüchlein drüber und nennen es „Meinung“.
Wenn Wissen erweitert wird oder sich durch neue Erkenntnisse ändert, sprechen viele von „wissenschaftlichen Meinungen“, die sich ändern würden. Dies ist eine fatale Fehlannahme, weil Wissenschaft keine Meinung ist, sondern eine Methode. Genau diese Methode verlangt, dass man Erkenntnisse anpasst, sobald bessere Daten vorliegen.
Genau das war z. B. in Coronazeit sehr häufig der Fall. Viele Kritiker der Coronamaßnahmen beachten meist nie die Mutationen des Virus – und die fast live zu beobachtenden neuen Erkenntnisse über das Virus fielen unter den Tisch. Dabei wurde sehr anschaulich vorgeführt, wie wichtig Methodik, Datenanalyse und Statistiken sind. Dazwischen eine z. T. effekthaschende Medienlandschaft, die lieber über angebliche Konflikte von Wissenschaftler:innen berichtete, wenn sie zu unterschiedlichen Einschätzungen aufgrund ihrer Methode kamen. Zurück blieben Menschen, die z. T. sehr verunsichert wurden, was bis heute gesellschaftliche Folgen zeigt. Coronaaufarbeitung ist wichtig, keine Frage, aber vielleicht ist es auch wichtig, die Methode der Wissenschaft besser zu vermitteln?
Erkenntnisse aufzunehmen, zu erweitern und anzupassen, ist ein Zeichen von Stärke. Ideologien bleiben gleich – Wissenschaft nicht. Wenn man Wissenschaft wie Glauben behandelt, ist man damit bereits einer Ideologie erlegen.
Meinungen zu ändern, ist daher eine Stärke.
Im Kontext der Wissenschaft anders ausgedrückt: Meinungsstarre begünstigt Unklarheit, Ängste und leider auch Dummheit.
Die Bremsklötze
Komfort
Veränderung tut weh. Die gewohnte Gegenwart fühlt sich sicherer an als eine bessere, die Arbeit kostet.
Kognitive Dissonanz
Innerer Widerspruch wird zurechtgebogen, damit das Denken nicht weh tut.
Angst vor Veränderung
Die Bedrohung morgen wirkt weniger real als der Verlust heute.
Tribalismus
Wir glauben, was unsere Blase glaubt. Identität schlägt Fakten.
Kurzfristigkeit
Unser Gehirn reagiert auf Sofortgefahren, nicht auf geologische Zeiträume.
Überforderung
Viele Menschen sind schlicht erschöpft. Wer zwischen Job, Kindern, Pflege und Rechnungen kaum atmen kann, hat keine Kapazität für globale Krisen. Verdrängen ist Selbstschutz und schon gar kein Charakterfehler.
Diese sechs Mechanismen sind keine Zeichen von Dummheit, sondern von Menschlichkeit.
Der moralische Absender-Bias
Es gibt eine siebte Bremse. Eine hässliche, die wir uns selbst erzählen, und sie ist die schrägste von allen: Wir verwerfen eine Wahrheit nicht, weil sie falsch wäre, sondern weil sie aus einem Mund kommt, den wir hassen.
Beispiel:
Zwei verurteilte Mörder stehen sich gegenüber. Einer sagt:
„Du hast jemanden getötet. Das war ein Unrecht.“
Der Satz ist wahr. Glasklar, unbezweifelbar, moralisch richtig.
Und trotzdem passiert das Unlogischste, was unser Kopf leisten kann:
Wir sind empört, nicht über den Mord,
sondern über den, der die Wahrheit ausspricht.
Unser Gehirn schreit:
„Halt die Fresse, du hast kein Recht dazu!“
Und genau in diesem Moment haben wir die Wahrheit weggeworfen, nur um den Überbringer nicht anerkennen zu müssen. Das ist keine Schwäche. Das ist nur Selbstbetrug in Reinform.
Ein weiteres und extremeres Beispiel. Ich habe mich entschieden, es trotzdem zu benennen, weil es brennt und weil es unsere Emotionen an die Grenze bringt. Es soll zeigen, was vielleicht in diesem Grenzbereich oder dahinter mit uns passiert. Aber keine Angst, ich bin an der Seite und es wird niemand in ein moralisch dunkles Loch geworfen.
Ein verurteilter Pädophiler sagt zu einem verurteilten Mörder:
„Du hast jemanden umgebracht. Das ist Unrecht.“
Es gibt mehrere spontane Reaktionswege – keiner davon hat etwas mit Logik zu tun:
Man denkt ans Kind.
Der Satz tritt in den Hintergrund, der Sprecher überstrahlt ihn moralisch komplett.
Man denkt an Kind und Mordopfer.
Die moralische Schockladung verdoppelt sich und verdrängt jede inhaltliche Prüfung.
Der archaische Reflex:
„Der Mörder sollte den Typ am besten direkt erledigen.“
Reine Gefühlslogik. Kein Millimeter rationale Prüfung des Gesagten.
Der seltenste Reflex – und der eigentlich richtige:
Man prüft die Aussage, nicht den Sprecher. Auch eine moralisch verachtenswerte Person kann einen wahren Satz sagen.
Die unterschiedlichen Reaktionen mögen unterschiedliche Fallhöhen haben, das ist nicht tragisch, weil sie alle menschlich sind. Wir fallen daher alle gleich weich, nur in unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Es ist nur die Frage, ob man mit dieser Geschwindigkeit nach außen hin agiert, oder sie abmildert, indem man sich der Fallhöhe mental bewusst wird. Heißt: die eigene Fallhöhe und Fallgeschwindigkeit reflektieren – dann nach außen handeln. Der moralische Absender-Bias ist damit nur die drohende intellektuelle Insolvenz des Menschen.
Wir beurteilen nicht die Wahrheit, sondern die Person. Und wenn uns die Person nicht passt, muss die Wahrheit sterben. Eine unbequeme Wahrheit aus einem verachteten Mund ist immer noch eine Wahrheit.
Die Wahrheit wird sekundär, sobald die moralische Bewertung des Absenders dazwischenfunkt. Ein Satz verliert nicht seine Gültigkeit, nur weil er aus einem Mund kommt, den wir verachten. Aber unser Gehirn setzt Wahrheit und Person automatisch gleich oder vernebelt die Wahrheit – ein fataler Kurzschluss.
Wir tun das nicht nur in extremen moralischen Szenarien. Wir tun es auch im Alltag – überall:
Wenn Korruptionspolitiker über Werte reden.
Wenn Menschen mit viel Besitz und wenig Selbstreflexion über Verzicht reden.
Wenn KI-Systeme wissenschaftliche Fakten wiederholen.
Wenn Besserverdienende soziale Gerechtigkeit loben.
Wenn Klimaaktivisten mit dem Flugzeug zu notwendigen Klimaveranstaltungen fliegen müssen.
Wenn Klimaaktivisten vor Klimaerwärmung warnen, gleichzeitig aber ihr eigenes Tun nicht verändern möchten.
Wenn Jan Ullrich gedopt hat, nehmen wir ihm fast sofort und komplett seine Leistungen.
Wenn Franz Beckenbauer in Schmiergeldaffären verwickelt war, lassen wir seine Lebensleistung implodieren.
Wir verzeihen bei anderen selten unsere eigenen Widersprüchlichkeiten. Wahrheiten sind jedoch selten rein. Fast immer tragen sie Ambivalenz in sich.
Wir reagieren nicht logisch. Wir reagieren territorial. Die Wahrheit wird zur Geisel unseres Egos.
Was tun?
Dieser moralische Absender-Bias lässt sich oft nur abmildern, wenn wir eine emotionale Bindung zu den Absendern besitzen. Nähe macht uns nachsichtiger, Distanz macht uns hart. Erst wenn wir jemanden mögen, respektieren oder zumindest verstehen, erweitern wir die eigene Logik. Dann gelingt ambivalentes Denken. Dann erkennen wir, dass Wahrheiten mehrschichtig sein können.
Ohne Bindung schrumpft unsere Bereitschaft zur Differenzierung radikal, mit Bindung erweitert sich unser Blick. So paradox es klingt: Für mehr Wahrheit brauchen wir manchmal erst Beziehung.
Wir sind nämlich Menschen.
Und das wiederum macht’s noch komplizierter …
Wir glauben Familienangehörigen eher als Fremden und wir begründen das mit tiefer Beziehung. Das klingt logisch, ist es aber nicht. Denn Wahrheit hängt nicht vom Stammbaum ab. Ein Fremder kann genauso recht haben wie jemand aus der eigenen Familie. Wenn man es genau nimmt, sind Fremde einfach auch nur Familienangehörige – halt nur nicht unsere.
Nähe ist kein Wahrheitskriterium, aber unser Kopf behandelt sie so.
Wir müssen uns bei vielen wissenschaftlichen Aussagen darauf verlassen, dass die Überbringer kompetent sind. Dass sie die Materie durchdringen. Somit müssen wir ihre Reputation prüfen.
Fatal: Wenn Reputation, Freundlichkeit und somit Beziehung sich einstellen und wir vertrauen, glauben wir dem Überbringer fast alles.
Koryphäen der Disruption wie z. B. Daniele Ganser nutzen diese Eigenschaft gnadenlos aus. Wenn dann noch besondere Eigenheiten von Neurotizismus hinzukommen, haben Wissenschaft und Logik kaum noch Chancen. Sie machen harte und komplexe Wahrheiten mit ihrem selbstgehäkelten Tuch für uns erträglicher.
Nur auf den ersten Blick, denn sie werden eigentlich unerträglicher …
Es ist daher nicht verwunderlich, dass destruktive Kräfte und sonstige Populisten das Vertrauen in Wissenschaft, Institutionen, Menschen und demokratische Einrichtungen zerstören wollen. Es ist dann nämlich ihr Eintrittsticket für unser emotionales Logikcenter, um es dann mit geschürten Ängsten zu zertrampeln.
Wissen ohne Konsequenz
Wir leben in einer Zeit maximalen Wissens und minimaler Konsequenz. Wir sehen die Wahrheit, aber nutzen sie nicht. Und das nicht, weil wir unlogisch wären, sondern weil wir psychologisch auf Stabilität gebaut sind. Wir wissen mehr, als wir verkraften, also verdünnen wir das Wissen. Die Wahrheit geht nicht verloren, sie wird nur erträglicher gemacht.
Politik, die Wahrheit verpacken muss
Demokratien entscheiden nicht immer nach Fakten, sondern nach Stimmungen. Zu viel Ehrlichkeit kostet Stimmen. Zu viel Komplexität kostet Publikum. Politik arbeitet in Wahlzyklen, der Klimawandel in physikalischen Gesetzmäßigkeiten. Kein Verrat – Systemlogik. Die Physik verhandelt nicht, die Politik schon. Darum gewinnt selten die beste Idee, sondern die beste Erzählung.
An dieser Stelle ist interessant, dass Demokratien, Autokratien und Regime trotzdem die Wissenschaft für ihre Zwecke nutzen. Das heißt: Die Erkenntnisse werden akzeptiert, wenn sie Vorteile, Waffen oder Instrumente der Unterdrückung bzw. Erhaltung der Macht generieren.
Ein Spiegel für uns selbst
Dieser Widerspruch betrifft nicht „die anderen“. Auch wir selbst kennen ihn. Wir alle haben Momente, in denen wir wissen, was richtig wäre, aber anders handeln – aus Müdigkeit, Angst, Gewohnheit oder Überforderung. Der Mensch ist weniger unlogisch als verletzlich. Veränderung beginnt nicht mit Stärke, sondern mit Ehrlichkeit:
„Ich sehe mich.“
Und jetzt? Ein Weg zwischen Wahrheit und Menschlichkeit
Es gibt keinen großen Hebel, keine Heldengeste. Veränderung beginnt im Kleinen – in Resonanz statt Urteil, im Dialog statt Abwehr. Ein ehrliches „Trotzdem“. Was kann ich heute tragen? Kein Heroismus, nur ein realer Schritt. Der Klimawandel ist größer als wir, aber unsere Haltung muss nicht klein sein. Wahrheit ist schwer, Handeln auch, aber Nicht-Handeln wird irgendwann schwerer.
Am Ende bleibt etwas Einfaches und Schwieriges zugleich:
Resonanz schaffen – auch im Gegensatz.
Es gelingt nicht immer, manchmal nur für einen Moment. Aber jeder dieser Momente, in dem wir die gemeinsame Wahrheit nicht verlieren, ist ein Schritt in Richtung Menschlichkeit. Wir können dann gemeinsam weich fallen …
Oder, um den zentralen Satz aus Contact (nach Carl Sagan) zu zitieren:
„Wir haben nur uns.“

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