Ein halbes Jahrhundert Kohärenz
Dieser Text ist eine Anknüpfung an „Emotionale Präzision“, wo ich meine Insel-Alben angedeutet habe.
Ein Album ist „Meddle” von Pink Floyd. Veröffentlicht wurde es 1971, ich habe es etwas später entdeckt. So um 1976 zog mich besonders die B-Seite der damaligen LP komplett in ihren Bann.
Zuerst die A-Seite, den letzten Titel “Seamus“ noch überstehen. Dann das Ritual am Plattenspieler. Fast feierlich die Platte gewendet, Nadel runter …
– Echoes –
…Knacken und Rauschen…
Ping! …*
Es trifft mich jedes Mal wie ein sauberer Schnitt durch meinen inneren Panzer.
Ein kurzer, harter Transient – suchend, tastend –, der trotzdem genug Wärme trägt, um den Panzer von innen aufzuschmelzen.
Der ursprüngliche Ping vom Studio-Album stammt übrigens nicht vom Piano, sondern von David Gilmours gedämpfter Gitarrensaite. Ein trockener Anschlag, in den Binson Echorec geschickt, dessen charakteristischer 3-kHz-Peak den Ton in ein echolotartiges Impulsignal verwandelt.
Die Pings vermehren sich. Sie variieren, tasten sich an unterschiedliche Stellen, als wollten sie die klebrigen Reste des Schutzmantels einzeln auflösen.
Sie werden weicher, dann wieder härter, schwingender …
Fast so, als würden sie vorsichtig prüfen, ob unter all dem Hartwachs überhaupt noch etwas atmet.
Und es atmet …
Der Panzer schmilzt, fängt an zu tropfen.
Richard Wrights Piano setzt ein – durch ein langsam rotierendes Leslie-Kabinett in eine U-Boot-artige Gleitbewegung gebracht.
Kein Echolot. Kein Impuls. Eher ein sanftes Schaukeln, ein Tragen, ein Schweben.
Das Piano und David Gilmours Gitarre gehen eine fast zärtliche Symbiose ein. Sie reden miteinander. Sie spielen sich die Tropfen hin und her, als würden sie das nun flüssige Wachs veredeln, bis sie zu blauen Kristallen abklingen.
Die blauen Kristalle fallen nun im Rhythmus von Nick Mason und seiner beginnenden Hi-Hat auf den Boden. Immer mehr, immer dichter, als würden sie etwas suchen, das sich zu lange versteckt hat.
Mit Roger Waters melodischem Bass werde selbst zu m-einem Medium, in dem sich der Ping ausbreitet und das U-Boot ruhig in meine Tiefe schaukelt.
Die Akkorde und Melodie verdichten sich. Dann wird alles weit – und ich sinke tiefer. Nicht weg, sondern weiter hinein. Als würde jemand Türen öffnen, die ich selbst vergesse, bis ein Klang sie wieder aufstößt.
Wenn Richard Wright und David Gilmour im Unisono einsetzen, entsteht eine schwebende, beinahe körperlose Harmonie. Keine Show, kein Herumwedeln mit Gefühl. Eher etwas, das mich an der Wirbelsäule packt und langsam ganz nach unten führt.
Ihr Duett ist keine Umarmung, sondern eine präzise Führung durch Räume, die ich sonst meide. Räume, die ich im Alltag eher überputze, als sie zu betreten.
„And I am you and what I see is me
And do I take you by the hand
And lead you through the land
And help me understand the best I can?“
Will ich mehr? Will ich wirklich mehr wissen?
Ja.
Auch wenn ich spüre, dass dieses Mehr fast immer etwas aufreißt, das ich sorgfältig abgedeckt habe.
Ich habe keine Angst mehr – vor mir.
Der treibende, rockige Mittelteil kündigt sich an wie eine Spannung, die ich schon kenne, aber nie richtig greifen kann. All die gefühlten und ungefühlten Fragmente, die Schatten – ich weiß nicht, wohin damit. Was davon ist wichtig? Was muss nach vorne? Was lasse ich zu, was bekämpfe ich?
Ich weiß es nicht.
Ich spüre nur: Alles gehört zu mir.
Dann kippt die Welt.
Der Mittelteil bricht über mich herein wie ein orchestrierter Kontrollverlust. Die von David Gilmours Gitarre stammenden verzerrten Möwen-Schreie, die perkussiven Cluster und die zerfransten Delays vom Binson Echorec – es ist, als würde die Musik meine eigenen Fragmente laut aussprechen. Alles, was ich im Alltag wegdrücke, taucht hier ungefiltert auf:
Wut, Angst, Verwirrung, Spannung.
Verluste. Sehnsüchte.
Brutal, ehrlich, unverhandelbar.
Aber es ist da.
Und es ist auch ich.
Das tut manchmal weh.
Deshalb ist es notwendig.
Dann kommt der Moment:
Richard Wrights Rückkehr. Zwei lange, anschwellende, atmende Farfisa-Akkorde.
Atem in Klangform.
Die beiden Akkorde der Farfisa sind keine Zauberei, keine Melodie – aber etwas Zerbrechliches und Reines. Eine Schwebung, die mit meiner Existenz resoniert.
Vielleicht trifft mich diese Sequenz deshalb so tief, weil ich sie schon als Kind gesucht habe. Als junger Teenager saß ich stundenlang im Keller an einer kleinen Bontempi- und Magnus-Gebläseorgel und versuchte, mit G-Moll und C-Moll diesen einen Farfisa-Atem nachzubauen. Ich hatte keine Chance – aber ich wusste, dass da etwas in mir aufgeräumt wurde.
Eine Unruhe, die noch keinen Namen hatte, legte sich für einen Moment. Was sich ordnete, war nur das ununterbrochene, kaum merkliche Beben eines Jungen, der sich oft alleine in der lauten Stille empfand.
Und es half, die gefährliche Pubertät zu überstehen. Ohne große Schrammen.
Richard Wright schafft es oft, dass ich in Resonanz mit seinen Noten und Melodien gehe. Aber mit dieser zarten Sequenz sortiert er alles. Mit jeder Schwebung, jeder Oszillation zeigt er mir geduldig meine Fragmente und Schatten.
Er stellt sie in ein anderes Licht.
Der Lärm wird lesbar.
Die Wucht bekommt Konturen.
Und die inneren Scheinriesen schrumpfen auf ein begreifbares Maß.
Er zeigt mir:
Du bist nicht zerrissen.
Du bist nur ungeordnet.
Es sind keine echten Monster.
Es sind nur deine Lunatics – und sie haben Angst, dich zu verlieren.
Sie wollen gesehen werden.
Nun sehe ich sie.
Die Lunatics sind da.
Alle.
Manche dösen, manche debattieren, zwei raufen halbherzig, wie immer.
Als ich eintrete, drehen sie sich zu mir.
Nicht bedrohlich. Nur wartend.
Sie stellen sich in einer Art Ordnung auf, die nur sie kennen.
Sie erzählen nacheinander, was anliegt.
Ich höre zu, sage ein paar Dinge.
Das reicht – meistens.
Sie beruhigen sich.
Ich gehe wieder, mit dem üblichen Versprechen früher zu kommen – ein Versprechen, das sie mir nie übelnehmen, wenn ich es breche.
Es fühlt sich trotzdem richtig an.
Weil sie trotz allem an meiner Seite stehen. Nicht aus Pflicht, sondern weil sie nun mal ich sind.
Das macht mich weicher.
Es ist ein Frieden, der nicht beruhigen braucht, sondern klären darf. Ein Wiederfinden und Wiedererkennen. Eine Stimmigkeit, die sich langsam legt wie Staub in einer Kuppel, bis wieder Kontur entsteht.
Im Outro führt mich dieselbe Musik, die mich hinabgetragen hat, zurück an die Oberfläche. Die Stimmen heben mich, die Gitarre öffnet Raum. Die Pings sind jetzt blau, sie setzen Orientierungspunkte – sie kommen immer gleichmäßiger, fast wie Leuchtfeuer einer Landebahn leiten sie mich wieder aus mir raus.
Das verstummende Windgeräusch beendet meine Reise.
Ich schaue der Musik noch etwas nach.
Ich komme zurück – aber nicht in den Zustand davor. Ich komme zurück mit meinem eigenen Klang im Gepäck.
Für einen Moment stimmt einfach alles. Kein Sturm, kein Druck und kein Verstecken. Nur Resonanz, die von innen nach außen reicht.
–
Echoes ist für mich kein Musikstück.
Es ist ein Vorgang. Ein 23-minütiger Reset, der mich daran erinnert, wie ich eigentlich klinge.
Ich bin dann wieder bei mir – und das ist schön.
Und manchmal – egal wann und wo – reicht dieses helle, kurze Ping vom Anfang, um mich in eine kleine Schockstarre zu versetzen. Ich habe diesen Ping als Klingelton – nur für besondere Menschen.
Es bekommt niemand mit, aber genau in diesem Augenblick atme ich freier.
–
Ping! …* oder Ping! ~~~
Die kleine Faszination eines Details
In den Live-Versionen – besonders bei „Live at Pompeii“ gut zu beobachten – kommt der Ping! ~~~ von Richard Wrights Piano, ebenfalls durch den Binson Echorec geschickt. Roger Waters verändert während des Intros die Echorec-Einstellungen (u. a. Tone und Head-Mix), wodurch der anfangs harte Impuls weicher wird und dieses warme, leicht hölzerne U-Boot-Gleiten entsteht.
Beide Versionen erfüllen den gleichen Zweck.
Die Suche stammt vom Echorec – die Wärme vom Piano …

Hinterlasse einen Kommentar