Requiem mit Licht im Abgang
Ich wollte viel schreiben.
Über das Leben, die Arbeit, über Systeme und Sinn. Aber mein Kopf hat einfach beschlossen, den Streik zu verlängern.
„Du hast dich gerade aus vier Jahrzehnten Struktur abgemeldet“, sagt er, „du bekommst jetzt kein neues Thema, du bekommst Stille.“
Nun sitze ich da, mit zu viel Luft im Denken und zu wenig Widerstand im Blut.
Vielleicht ist das kein Boykott. Vielleicht ist es Nachsitzen – die obligatorische Pause, um mein System zu entgiften. Ich habe jetzt über zwei Monate selbst genommene Zeit, um das zu tun.
Es läuft.
Aber der Prompt bleibt leer …
Über Politik schreiben? Die kotzt mich an.
Über Gesellschaft meckern? Die Lautheit aller nervt mich.
Über mich und meine Kündigung schwurbeln? Für andere langweilig – für mich freilich geil.
Aber vielleicht reicht mir genau das.
Ich schreibe mir einfach selbst Mails.
Das Prompt fängt wieder an zu blinken …
–
Mail an mich
Ich bin 61. Nicht 61 geboren, sondern 64. Ich bin also aus dem vorherigen Jahrhundert und in dem Alter, wo man diese beiden Zahlen leicht verwechseln kann.
Ich bin 61 Jahre alt und darf Anfang 2026 noch einmal ganz von vorn anfangen. Beruflich. Strukturell. Systemisch.
Und das Schlimme daran ist: Ich freu mich drauf und find’s auch noch geil.
Vielleicht, weil ich endlich nicht mehr gegen Wände rede, die glauben, sie seien tragende Strukturen. Vielleicht, weil ich keine Energie mehr darauf verschwenden muss, höflich und stumm zu bleiben, wenn Unfähigkeit das Wort „Erfahrung“ trägt.
Oder, weil ich es satt habe, mich täglich in einem System zu spiegeln, das weder reflektiert noch resoniert – nur irgendwie wie ein Relikt seiner Vergangenheit existiert.
Der Betrieb verwahrloste. Geschäftlich, räumlich, menschlich und moralisch.
Ich war nicht ausgebrannt.
Ich war leergeräumt.
Langsam, still, über Jahre.
Mail aus der Vergangenheit
Irgendwann sitzt du da, starrst auf einen Bildschirm voller Tabellen, und weißt, dass du längst ausgebucht bist – innerlich. Du liest in den Zahlen und weißt genau, was zu tun wäre, aber du dringst damit nicht mehr durch. Nicht mehr zu deinen Chefs, die dich bewusst und unbewusst klein halten, weil sie selbst nicht wissen, was Größe bedeutet.
Dann wirst du still.
Irgendwann wartest du jeden Monat auf dein Gehalt. Manchmal sogar länger. Auf dein seit zehn Jahren nicht mehr gestiegenes Gehalt. Du tust das, weil es mal alles anders war, weil du loyal bist und hoffst, dass es wieder besser wird.
Dass es so wie früher wird.
Du naiver alter Depp!
Du bist 61 und weißt genau, warum sie dich nicht bezahlen können. Unter anderem weil deine Leistungen nicht mehr relevant sein durften. Deine über 40 Jahre geschaffenen Strukturen werden und wurden zerstört. Deine jüngsten Entwicklungen wurden und werden einfach weggebonert. Langsam, nach und nach – mit der reinigenden Perfektion ihrer Unfähigkeit in das Schmutzwasser ihres eigenen Versagens gerungen.
Du beginnst krampfhaft, Wertschätzung zu suchen – nicht in Gehältern oder Geschäftsplänen (die es eh nie gab), sondern in der langen Vergangenheit.
Und du findest sie nicht.
Plötzlich merkst du, dass es sie eigentlich nie richtig gab. Du sezierst Situationen aus der Vergangenheit wie Sherlock Holmes, und Watson zieht wegen deiner Naivität die Augenbraue hoch.
Es war bequem in der Blase, und es hatte schließlich Zeit und Arbeit gekostet, sie einzurichten. Sowas lässt man nicht einfach los. Doch genau diese wohlige Trägheit ist die eigentliche Investition in das eigene Scheitern.
Du machst dir Gedanken um die paar Jahre, in denen du auf dem Arbeitsmarkt nach 46 Arbeitsjahren keine Relevanz mehr hast. Du überlegst dir einen Plan, wie du die Zeit bis zur Rente noch rumkriegen könntest.
Dann hättest du fast 52 Jahre gearbeitet und wirst mit 48 Prozent abgespeist. Du überlegst, dass weitere Kürzungen von diesen schäbigen 48 Prozent auch keine Rolle mehr spielen würden, wenn du vorzeitig abtreten würdest.
Dann hörst du dir Sonntagsreden von Politiker:innen an, die längere Lebensarbeitszeiten fordern und Montags politische Arbeit verweigern.
Du freust dich trotzdem, wenn jemand aus deinem Umfeld früher in Rente gehen kann. Weil du seit über einem halben Jahrhundert weißt, was Arbeit bedeutet.
Es sind ja nicht mehr viele Arbeitstage bis zu deiner regulären Rente – vielleicht um die zwölfhundert Arbeitstage.
Zwölfhundert Tage im Gambit von Verwahrlosung und Sinnlosigkeit?
Zwölfhundert Tage – oder fast 10 000 Stunden – mit Würgereiz.
Und dem völligen Verlust von Würde?
Wenn du dafür fit bleibst …
Ein Boreout ist kein Knall, sondern ein langsamer Entzug: von Sinn, von Stolz, von Selbstwirksamkeit und von Würde.
Du merkst, wie sich deine emotionale Präzision verschoben hat und immer weiter verschiebt.
Stop
*Nö!*
Du musst unbedingt handeln …
Bewerbungen. Einladungen. Gespräche. Viele. Über Monate. Absagen. Hinhaltungen. Auf Halde gelegt. Sie sagen es nicht, aber du weißt es: 61 Jahre …
Der Plan zur arbeitsfreien Überbrückung bis zur Rente nimmt konkrete Form an. Der Gesundheit zuliebe.
Mail aus der Gegenwart
Durch Zufall habe ich doch zu einem mittelständischen Unternehmen Kontakt gefunden, das meinen Lebenslauf ohne Bewerbung aufmerksam las, wertschätzte und mit mir reden wollte. Mit mir persönlich und nicht mit offiziellen digitalen Bewerbungspapieren.
Einfach so.
Was ich zu ihrem System zu sagen hätte. Was ich beitragen könnte.
Weil ich mit meiner über 60-jährigen Lebenserfahrung reinpasse, wie die Sechs zehnmal in die Sechzig.
Endlich.
Aber zuerst gesittet abschließen mit dem alten System.
Kündigung. Mulmiges Gefühl, aber immerhin selbstbestimmt.
Natürlich persönlich überreicht. Nicht um Porto zu sparen, sondern um die letzte schmerzhafte Gewissheit zu erlangen:
Kaum zwei Sekunden später – solange braucht man um den Betreff zu lesen – war die Kündigung mit traditioneller Borniertheit quittiert…
„nur erhalten“ (Unterschrift, Datum)
…und meine über 40-jährige Arbeitsleistung faktisch in 180 Sekunden ätzendem Austausch über ein irrelevantes Thema und Zusammensuchen meiner persönlichen Dinge ins Nichts implodiert.
Einfach ausgelöscht.
Ein Lieferschein bekommt mehr Würde
–
Ich habe noch nicht fertig!
Nicht so!
In der alten Flasche brennt nämlich noch Licht.
Mail – an die Stille
Ich merke, wie mein Kopf langsam wieder Geräusche macht. Keine Ideen, keine Pläne – nur dieses feine Knistern, wenn Gedanken anfangen, sich zu regen. Wie wenn Schnee schmilzt und irgendwo unter der Oberfläche Wasser läuft. Erst leise, dann stetiger.
Da ist noch kein Thema, kein Text, keine Strategie nur ein Impuls:
Ich bin wieder da. Ich bin wieder bei mir.
Mail an die Zukunft
Im Januar 2026 geht’s los.
Ich darf mich wieder geistig bewegen und nicht in der Leere stehen. Ich darf endlich wieder konstruktiv arbeiten und nicht Tradition abmeißeln. Ich darf wieder kreativ in jungen Strukturen sein. Und ich darf meine Struktur in eine größere Struktur einfädeln.
Zu allem Unglück gibt’s dafür auch noch mehr und regelmäßig Geld.
Wenn das ein Spätstart ist, dann ist er wenigstens echt, weil er gerade wirkt wie eine frische Duracell im Hoppel-Häschen.
Vielleicht geht’s sogar früher los.
Ich brauche kein Comeback. Nur Resonanz auf mein synaptisches Schellenklopfen. Das wieder lauter wird.
Und vielleicht ein bisschen Freude daran, dass mein Kopf langsam wieder Themen freigibt.

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