Das verzerrte Gleichgewicht

Wie rechte Aggression verharmlost und linke Kritik dämonisiert wird und sich die Mitte selbst zertrümmert

Zur Klarstellung

Der Text war anders geplant und fast fertig. Habe ihn dann verworfen, weil er ziemlich schief zur derzeitigen Situation lag.

Warum?

Mir gelang es in der ersten Fassung nicht die Asymmetrie von rechter und linker Agitation zu greifen.

„Links“ wäre bekanntermaßen die gegenüberliegende Seite von rechts. Nun muss man festhalten, dass von rechter Seite alles andere als „links“ betrachtet wird, so dass Ziele der rechten Agitation auch aus der politischen Mitte stammen. Wir reden aber nicht von Orientierung im Straßenverkehr, sondern von politischen Ausrichtungen. In der Mitte dürfte sich die Mehrheit tümmeln. Und damit ist sie es, die auch von rechter Agitation betroffen ist.

Das gilt es zu erkennen und nicht den Frame der Rechten zu übernehmen.

Natürlich ist die „linke Seite“ auch polemisch unterwegs und kann Aggressionen aufbauen, jedoch erreicht sie nicht im Ansatz die Polemik, den Hass, die Gewaltbereitschaft und Diskreditierungen, wie sie aus der „rechten Seite“ derzeit üblich sind.

Wenn ich „rechts“ schreibe, meine ich Rechtsradikale, Rassist:innen, Rechtspopulist:innen, die Ultrarechten usw. Und natürlich alle die, die mit ihnen paktieren – in aktiver Zustimmung oder schreiendem Schweigen.

Meine Schubladen sind diesmal absichtlich undifferenziert, weil offensichtliche Menschenverachtung gar keine Differenzierung braucht. Trotzdem, es ist immer ein erheblicher Unterschied, ob man den Menschen hinter einer politischen Einstellung diskreditiert oder nur dessen Einstellung.

Allerdings: Wenn jemand Rassist ist, dann ist er Rassist. Er vertritt dann nicht nur diese Positionen und es wird nicht gelingen, lediglich seine Positionen anzugreifen.

Dennoch …

Das Attentat – es war Mord. Punkt.

Der Mord am – hier bei uns weitgehend unbekannten – US-Aktivisten Charlie Kirk hat eine internationale Welle politischer Instrumentalisierung ausgelöst.

Wer die politische Ansichten von Kirk kennenlernen mag, hier geht’s zu seiner menschenverachtenden Staffelei. Sie zeigt im Prinzip alles was man braucht, um ein rechtsdrehender (weißer) Extremist zu sein. Da helfen auch Einwürfe wie „aber er war debattenbereit“ nichts mehr.

Während seine neuen und alten Anhänger:innen ihn zum Märtyrer verklären, werden Kritiker:innen mit Drohungen, Doxxing und moralischer Schuldzuweisung überzogen. Wer Kirk öffentlich als Rassisten oder LGBTQ-Feind benennt oder (!) nur seine Rhetorik zitiert, muss mit Hasskampagnen rechnen.

Das Muster ist nicht neu. Auch in Deutschland erleben wir, wie rechte Aggression systematisch unterschätzt und linke Kritik überhöht wird.

Beispiele aus Deutschland

Elmar Theveßen – Präzision als Falle

In der ZDF-Sendung Markus Lanz sagte Elmar Theveßen, Kirk habe „gefordert, Homosexuelle müssten gesteinigt werden“. Diese Zuspitzung war ungenau – korrekt ist, dass Kirk „Nürnberg-Prozesse“ für Ärzt:innen forderte, die geschlechtsangleichende Behandlungen anbieten. Theveßen räumte später selbst ein, dass er differenzierter hätte formulieren müssen.

Der Fehler wurde sofort instrumentalisiert: Rechte Medien bezeichneten ihn als Lügner und linksradikalen Hetzer. Richard Grenell, Trumps Vertrauter, forderte sogar, Theveßen solle sein US-Visum verlieren – faktisch eine Ausweisung. Parallel griff man eine zweite Äußerung von Theveßen auf: Im auslandsjournal hatte er erklärt, Stephen Millers Überzeugungen kämen „ein Stück weit aus der Ideologie des Dritten Reiches“. Inhaltlich und objektiv begründbar, rhetorisch angreifbar – und sofort ein gefundenes Fressen für rechte Kampagnen.

Das ZDF hält bislang zu Theveßen.

Dunja Hayali – Fakten als wahrgenommene Hetze

Im heute journal kommentierte Dunja Hayali Kirk als „extremen und extrem umstrittenen Influencer“ bei jungen Konservativen, Christen und Rechtsradikalen. Sie sprach von „seinen oftmals abscheulichen, rassistischen, sexistischen und menschenfeindlichen Aussagen“ und (!) kritisierte zugleich, dass manche Gruppen seinen Tod feierten.

Ihre Einordnung stützte sich auf dokumentierte Aussagen Kirks, die vielfach nachlesbar sind. Trotzdem wurde Hayali massiv angefeindet, beleidigt und bedroht. Auffällig: Nicht Kirks eigene Äußerungen standen im Zentrum der Empörung, sondern die Tatsache, dass eine Journalistin sie benannte. Und jetzt steht auch nicht im Mittelpunkt, dass eine Journalistin Morddrohungen erhält – aus der rechten Szene.

Inzwischen hat sich Hayali für eine Auszeit zurückgezogen.

Heidi Reichinnek – Mitgefühl für wen?

In der ARD-Talkshow Caren Miosga (14.09.2025) sagte die Linken-Politikerin Heidi Reichinnek, sie habe kein Respekt und kein Mitgefühl für Kirk – angesichts seiner rassistischen und suprematistischen Haltung. Zugleich machte sie klar, dass sie Gewalt jeglicher Art ablehnt. Aber das wusste Miosga auch schon vorher …

Auffällig: Miosga kritisierte Reichinneks fehlendes Mitgefühl gegenüber Kirk – einem ermordeten Rechtspopulisten, dessen Worte Minderheiten entwürdigten. Kirks eigene Menschenverachtung blieb dagegen unerwähnt.

Im selben Gespräch forderte Reichinnek eine gerechtere Vermögensbesteuerung und sprach Milliardären ab, ihr Vermögen „selbst erarbeitet“ zu haben. Ihre Bemerkung, Milliardäre seien im Grunde „Schmarotzer“, löste Empörung aus: konservative Stimmen warfen ihr Klassenkampf und Respektlosigkeit vor – dieselben Stimmen, die Bürgergeldempfänger:innen routiniert als „Sozialschmarotzer“ diffamieren.

Wenngleich man erwähnen sollte, dass Miosga ein paarmal durch Beifall des Publikums in Richtung Reichinnek aufgeweckt wurde. Trotzdem, so verschiebt sich der Fokus – von inhaltlicher (scharfer) Kritik an Ungleichheit hin zur angeblichen Aggressivität einer linken Politikerin.

Miosga hätte auch wissen müssen, wie „die Linke“ eigentlich agiert, stattdessen …

Die endlose Moralkeule – langweilig auf beiden Seiten

Das ewige Aufwärmen von alten oder aktuellen Postings – egal ob aus AfD oder linker Jugend – ist kein Beweis, sondern ein Ritual. Rechts wie links.

Es langweilt, weil es Debatten ersetzt, statt sie zu führen. Das ist kein demokratischer Diskurs, das ist Zeitverschwendung.

Auch wenn diverse Postings aus linker Jugend geschmacklos sind, es besteht ein großer Unterschied zwischen linker (geschmackloser) Zuspitzung Einzelner und einem rechten massiven Feld, die dadurch – und der moralischen Empörung – ihr Lebenselixier destilliert.

Das eigentliche Ungleichgewicht

Wer in Deutschland (und nicht nur hier) auf rechte Gewalt verweist, stößt auf eine erstaunliche Verschiebung:

  • Beim Mord an Walter Lübcke blieb breite rechte Empörung aus, obwohl er ermordet wurde, weil er die Verfassung verteidigte.
  • Nach Hanau mit seinen rassistisch motivierten Morden dominierten bald Relativierungen und Abwiegelungen.
  • Der NSU konnte jahrelang morden, weil staatliche Behörden blind oder gar mitschuldig waren.
  • Breivik wurde in Teilen der rechten Szene sogar als „Überzeugungstäter“ verklärt.

Rechte Gewalt trifft reale Menschen, linke Worte treffen höchstens das Ego der Reichen oder Mächtigen oder das System. Die Reaktionen darauf zeigen die Asymmetrie: Gewalt von rechts wird verharmlost, Kritik von links dämonisiert. Dasselbe Muster sehen wir jetzt auch nach Kirks Tod – Täter- und Opferrollen verschwimmen zugunsten derer, die schon zuvor aggressiv auftraten.

Das Paradox der Mitte

Viele, die sich als „die Mitte“ sehen, versuchen rechts und links gegeneinander aufzuwiegen. Sie sprechen von beiden Extremen und verschleiern so das Machtgefälle. Dabei ist die linke Seite viel zu schwach, um überhaupt ein Gegengewicht zu bilden. Rechte Aggressionen prägen längst die öffentliche Stimmung, linke Kritik wird im selben Atemzug als Hetze abgetan.

So entsteht ein gefährliches Paradox: Die Mitte wiegt rechts mit links auf – und stabilisiert damit ungewollt die hasserfüllte Dynamik der Rechten.

Debattenkultur – verzerrte Maßstäbe

AfD-Politiker, Rechtspopulisten und auch z.B. solche Koryphäen wie Hubert Aiwanger oder Markus Söder in Bayern können offensichtlich jeden Bullshit erzählen, so viel sie wollen. Sie können hemmungslos wissenschaftliche Erkenntnisse leugnen.

Hängen bleibt oft etwas ganz anderes: einzelne ungenaue Aussagen von Politiker:innen, die links verortet sind. Ein Versprecher, eine unsaubere Formulierung, ein polemischer Satz – und schon wird daraus ein Skandal. Wenn’s keiner ist, wird halt einer mit falschen Fakten gemacht.

Die Härte ist merkbar ungleich verteilt.

Und das hat dann zur Folge, dass von Fakenews Betroffene mit Hassbotschaften übergossen werden.

Kein symmetrisches Spielfeld

Das, was heute wie ein Kulturkampf inszeniert wird, ist in Wahrheit kein symmetrisches Spielfeld. Rechte setzen mit Aggression, Einschüchterung und Drohungen die Agenda. Linke Kritik daran muss sich permanent rechtfertigen, darf keinen Fehler machen und ja keinen falschen Ton treffen.

Am Ende bleibt: Wer mit Lügen und Hetze arbeitet, darf fast alles sagen. Wer sie entlarvt, darf fast nichts falsch machen.

Das ist kein Streit auf Augenhöhe, sondern ein Machtgefälle – und wer das übersieht, läuft Gefahr, die Spielregeln der Rechten mitzuspielen.

Die Mitte zerstört sich selbst

Ein Spiel, in dem Bürger:innen immer verlieren, weil sie sich anlügen lassen. Politiker:innen, die lügen, Fakten verdrehen und Wissenschaft ignorieren, betreiben keine demokratische Bürgerpolitik – sie zerstören sie.

Ich bin nun wahrlich nicht der Erste, dem diese drastische Schieflage auffällt. In der Medienlandschaft werden Forderungen laut, dass die „linke Seite“ polemischer werden sollte, damit sie noch Gehör finden.

Da kann ich nur sagen: Gute Nacht!

Es geht nämlich schon lange um die Mitte – sie ist nicht mehr neutraler Raum, sondern das eigentliche Schlachtfeld, ja sogar der Hebel, mit dem die Rechte ihre Wirkung entfaltet.

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