Demokratie in Handschellen

Zwischen Greta, Terror-Etiketten, Überwachungsorgien und der universellen Gefahr junger Männer.

Ein weiter Bogen? Ja, aber er soll zeigen, wie wir unsere Wahrnehmung verschieben lassen – und selbst verschieben.

Eine Schlagzeile wie ein Fanal

„Israel droht Greta Thunberg mit Terror-Knast.“

Allein die Wortkombination klingt wie ein schlechter Witz. Eine Klimaaktivistin, die mit einer Hilfsflottille Richtung Gaza segelt, soll wie eine Terroristin behandelt werden.

Was auf den ersten Blick nach Übertreibung wirkt, zeigt ein Muster: Demokratien, die im Namen der Sicherheit mit Etiketten arbeiten – und sie so dehnen, dass selbst eine Aktivistin plötzlich im Raster der Terrorbekämpfung landet.

Die Makaberie des Sonderrechts

Israel hat dafür eine eigene Infrastruktur: Gefängnisse, Sonderbehandlungen, Sondergesetze. Ursprünglich für Attentäter, Raketenbauer, organisierte Netzwerke gedacht. Doch wenn eine Greta Thunberg in denselben Diskurs gerät, kippt die Logik ins Absurde. Das Etikett „Terrorist“ wird zur rhetorischen Keule, mit der auch politischer Protest getroffen werden kann.

Etiketten entscheiden somit darüber, wer als Bedrohung gilt und wer nicht.

Wenn Angst das Gesetz schreibt

Das Prinzip ist global sichtbar. Nach 9/11 klebten die USA das Etikett „enemy combatant“ auf Menschen – mit Guantánamo als Folge. Frankreich erklärte 2015 einen Notstand, der bald ins Dauerrecht überging.

Deutschland ging offiziell vorsichtiger vor: Rasterfahndung, Vorratsdatenspeicherung, neue Polizeibefugnisse – fast immer unter dem Vorbehalt, dass Gerichte korrigierend eingreifen. Aber auch hier gab es eine strategische Verschiebung: weniger sichtbare Ausnahmegesetze und mehr unsichtbare Überwachung.

Der NSA-Skandal 2013 zeigte, wie eng deutsche Dienste eingebunden waren. Millionen Metadaten wurden nicht nur heimlich abgegriffen, sondern teilweise sogar freiwillig an die USA geliefert – als Preis für die Partnerschaft. Im Prinzip spionierte der deutsche Staat mit und stellte seine Bürger nicht etwa unter Schutz, sondern unter Beobachtung.

Heute setzt sich dieses Muster fort: Mit Programmen wie Palantir holen sich Polizeien amerikanische Blackbox-Software ins Haus, die Datenströme verknüpft und Muster berechnet. Technisch effizient, politisch bequem, demokratisch aber kaum kontrollierbar. Digitale Souveränität wird so abgegeben, nicht erkämpft.

Besonders brisant wird diese Abhängigkeit mit Blick auf Washington. Die USA befinden sich im Umbau: Unter Trump wurde der Rechtsstaat bereits ausgehöhlt, unter J.D. Vance droht eine strategische Festigung dieser Linie – Macht vor Recht, Loyalität vor Institution. Wer in dieser Lage freiwillig Daten liefert und seine Sicherheitsarchitektur auf amerikanische Konzerne stützt, macht sich doppelt verwundbar. Aus Partnerdiensten könnten Überwachungsapparate werden, die sich gegen Europa selbst richten.

So reicht die Sicherheitsarchitektur heute von der Cloud bis zum Kopfsteinpflaster: dort Algorithmen, die Datenströme durchmustern, hier Betonpoller vor dem Glühweinstand. Sichtbar und unsichtbar zugleich, zwei Seiten derselben Verschiebung. Was der Terror nicht zerstört hat, erledigt die Sicherheitslogik – mal im Code, mal aus Beton.

Beton in den Köpfen

Doch Beton findet man nicht nur auf den Straßen, sondern auch in den Köpfen.

„Ich habe nichts zu verbergen“

Ein Satz so hart und grau wie ein Poller. Er wirkt stabil, ist aber in Wahrheit brüchig, denn im Netz spricht kaum jemand allein. Wer seine Daten preisgibt, zieht die seiner Freund:innen, Kolleg:innen, Kinder gleich mit ins Raster.

So wird Bequemlichkeit zum Baustoff einer unsichtbaren Festung – nicht gegen den Terror, sondern gegen die eigene Freiheit. Und wenn Demokratien, längst auf dem Weg in Machtstaaten, mit diesen Daten „spielen“, dann ist die größte Gefahr nicht mehr die Bombe von außen, sondern das Klicken von innen.

Hier wird der Bogen zu Greta Thunberg interessant, es gibt in der Debatte nicht wenige Menschen, die sie tatsächlich im Terror-Knast sehen möchten. Man kann von Thunbergs Aktionen nun halten was man möchte, aber scheinbar haben diese Leute echt (noch) nichts begriffen …

Stoltenberg und die Asymmetrie der Etiketten

Es ist etwas her, aber Jens Stoltenberg wählte 2011 einen anderen Weg. Nach Breiviks Massaker sagte er: „Unsere Antwort lautet mehr Demokratie, mehr Offenheit, mehr Menschlichkeit – aber niemals Naivität.“ Ein Satz, der bewusst auf Sonderbegriffe verzichtete.

Allerdings bleibt die Asymmetrie: Breivik wurde als Rechtsextremist benannt, ein Hausgemachter. Islamistische Täter dagegen tragen das Etikett einer globalen Bedrohung – Al-Qaida, IS –, was reflexartig härtere Maßnahmen legitimiert. Der Kontext erzeugt andere Etiketten, und mit ihnen andere Reaktionen.

Heute, als NATO-Generalsekretär, klingt Stoltenberg anders: Er selbst spricht von Bedrohung, Abschreckung, Gefahr. Das alte Narrativ ist fast nur noch ein Echo.

Norwegen 2025: Streit ohne Schaum vor dem Mund

Es fällt auf: Norwegen 2025 hält den Diskurs nüchterner. Migration wird diskutiert, Gemeinden sind überlastet, Gesetze werden angepasst. Aber die Sprache bleibt technokratisch:

Kapasitetsutfordringer – Kapazitätsherausforderungen

Tragische Fälle wie Messerattacken werden berichtet, aber nicht zu kulturellen Großdiagnosen aufgeblasen. Etiketten bleiben zurückhaltend.

Der universelle Nenner: jung, männlich, risikobereit

Die eigentliche Ironie: Während Demokratien sich im Etikettieren üben, bleibt eine universelle Risikogruppe namenlos. Seit Menschengedenken füllen junge Männer zwischen 16 und 25 die Gewalt- und Unfallstatistiken. Kriminologen sprechen vom „age-crime curve“ – sichtbar in jedem Land, unabhängig von Religion oder Herkunft.

Die Gründe sind bekannt: Testosteron, Risikobereitschaft, fehlende Impulskontrolle, gepaart mit der Suche nach Anerkennung. Wer im sicheren Umfeld lebt, findet Kanäle dafür. Wer ohne Perspektive dasteht, driftet ab – ob als Geflüchteter oder „Biodeutscher“ im Brennpunkt.

Die Ventile sind verschieden, das Muster gleich:

– ein Messer in der Hosentasche,

– ein Auto mit 200 auf der Landstraße,

– ein Motorrad, das sich mit 250 in die Kurve legt,

– eine Prügelei im Stadion, Pyro inklusive,

oder eine Ideologie, die Sinn verspricht – rechts, links, islamistisch, egal.

Die gefährlichste Mischung ist also nicht Flüchtling + Messer, sondern jung, männlich, perspektivlos. Doch niemand würde ernsthaft die gesamte Alterskohorte als Gefährder etikettieren. Zu Recht.

Aber genau das passiert, wenn Herkunft ins Spiel kommt.

Die Doppelmoral der Wahrnehmung

Die Reaktionen bleiben asymmetrisch: Wenn ein Geflüchteter Täter ist, heißt es: „Die Flüchtlinge.“ Wenn ein Deutscher dasselbe tut, ist es ein „tragischer Einzelfall“. Und wenn der Täter zwar einen deutschen Pass, aber den „falschen“ Namen hat, wird das Etikett nachgeschoben: „Migranten mit deutschem Pass.“ Das Label passt sich dem Feindbild an – nicht der Wirklichkeit.

Mehr als Zahlen: die psychologische Wucht

Statistisch sterben mehr Menschen im Verkehr, an Krankheiten, durch Umweltbelastung. Aber Terror wirkt anders. Er sucht gezielt Alltagsorte auf: Märkte, Konzerte, Bahnhöfe. Er tötet nicht nur Menschen, sondern pflanzt Angst in Köpfe. Deshalb reicht es nicht, nur mit Zahlen zu kontern. Man muss anerkennen: Terror lebt von Symbolik.

Genau deshalb ist Vorsicht geboten. Denn wenn Demokratien aus Symbolen dauerhafte Sonderrechte zimmern, gewinnt der Terror mehr, als seine Täter je erreichen könnten.

Der Mut zur Verletzlichkeit

Die unbequeme Wahrheit ist:

Demokratien bleiben verletzlich.

Wen versucht wird, sie hermetisch abzuschotten, verliert sie gerade dadurch. Der eigentliche Sieg des Terrors liegt nicht im Angriff auf Menschen, sondern in den Etiketten und Gesetzen, die danach unser Denken prägen.

Wir setzen Poller, installieren Software, reden uns ein, nichts zu verbergen zu haben – und sitzen doch längst freiwillig auf dem Pulverfass. Die Bombe muss gar nicht mehr explodieren. Wir haben schon selbst den Zünder in die Hand genommen.

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