Einleitung und wichtige Abgrenzung
In der Psychologie bezeichnet “Disposition” eine grundlegende Anlage oder Tendenz des Menschen, bestimmte Verhaltensweisen oder Reaktionen wahrscheinlicher zu zeigen als andere. Dispositionen sind dabei keine festen Schicksale, sondern eher Bereitschaften, die sich je nach Situation unterschiedlich äußern können.
Dispositionen wirken also wie ein inneres Grundklima: Sie prägen, wie wir die Welt wahrnehmen, auf welche Reize wir stärker reagieren und welche Themen uns besonders beschäftigen – ohne unser Verhalten vollständig festzulegen.
Neurotizismus – eine der fünf großen Persönlichkeitsdimensionen – beschreibt keine Krankheit, sondern eine Grunddisposition menschlichen Erlebens. Es geht hier also nicht um pathologische Bewusstseinszustände oder ähnliches.
Menschen mit hoher Ausprägung sind emotional reaktiver, nehmen Bedrohungen intensiver wahr, grübeln stärker über mögliche Gefahren und reagieren empfindlicher auf Stress. Diese Sensibilität ist ambivalent: Sie kann zur Ressource werden, etwa als feines Frühwarnsystem, das Störungen früh erkennt. Sie kann aber auch zur Belastung werden, wenn Unsicherheit, Krisen oder soziale Spannungen dominieren.
Eine hohe dispositionelle Ängstlichkeit bedeutet nicht, dass jemand ständig Angst hat, sondern dass er in unsicheren oder bedrohlichen Kontexten schneller und intensiver Angst erlebt als andere.
Psychologisch betrachtet begünstigt hoher Neurotizismus eine verstärkte Aufmerksamkeitslenkung auf negative Reize, eine erhöhte Anfälligkeit für Angstnarrative und ein Bedürfnis nach stabilen Ordnungen. Das macht Betroffene nicht irrational oder schwach – es bedeutet schlicht, dass sie stärker auf die Zumutungen einer unsicheren Welt reagieren.
In stabilen Verhältnissen kann das Halt geben. In instabilen Zeiten jedoch verwandelt sich diese Disposition in eine offene Flanke: Populistische Bewegungen liefern scheinbare Klarheit, vereinfachte Feindbilder und ein emotionales Ordnungssystem, das Komplexität wegwischt und Sicherheit verspricht.
Das eigentliche Problem
Kollektiv verdichtet, kann Neurotizismus so zu einem gesellschaftlichen Klimafaktor werden. Nicht, weil Einzelne pathologisiert werden müssten, sondern weil die Summe vieler empfindsamer Dispositionen einen Resonanzraum für Vereinfachung, Autoritarismus und Ausgrenzung eröffnet.
Wir wären daher gut beraten, diesen Zusammenhang ernster zu nehmen, nicht als Stigma, sondern als soziokulturellen Resonanzraum, in dem sich Unsicherheit, Angst und Wut zu radikalen Haltungen verdichten können. Nicht jede*r, der sich nach Ordnung sehnt, ist verloren. Aber viele werden verführbar, wenn man sie in ihren Ängsten allein lässt.
Das ist auch einer der Punkte, die mich zu dem Text “Wenn Haltung zur Wand wird” inspirierten.
Empörung bringt Quote – Aufklärung nicht
Individuelle Dispositionen allein erklären noch keine Radikalisierung. Entscheidend wird, in welchem Resonanzraum sie aufscheinen. Und dieser Resonanzraum ist längst algorithmisch und medial strukturiert.
Neurotizismus trifft hier auf eine Umgebung, die systematisch negative Emotionen verstärkt: Angst, Empörung, Verunsicherung. Plattformen, die auf Aufmerksamkeit optimiert sind, bevorzugen genau jene Inhalte, die starke Gefühle triggern. Wer ängstlich sucht, bekommt noch mehr Angst. Wer verunsichert ist, findet Bestätigung für seine Verunsicherung. Eine Rückkopplungsschleife entsteht, in der individuelle Sensibilität kollektive Dynamik gewinnt.
Auch die klassischen Qualitätsmedien sind in dieses Spiel verstrickt. Eigentlich müssten sie bremsen, erklären, einordnen. Doch im Überbietungswettbewerb um Relevanz verfallen auch sie dem Takt der Empörung. Talkshows inszenieren Scheindebatten, die kalkulierbar knallen, aber selten Erkenntnis schaffen. Komplexität wird wegmoderiert, Langsamkeit wirkt verdächtig, Differenzierung bleibt im Schnittraum liegen.
So wird der Resonanzraum, in dem Menschen mit erhöhter Sensibilität nach Halt suchen, nicht beruhigt, sondern zusätzlich aufgeheizt. Unwahrheiten verharren unwidersprochen im Raum – live und in Farbe –, bis sie zur gefühlten Wahrheit werden. Und die Medien bedienen damit, ob gewollt oder nicht, dieselbe Logik wie die Algorithmen der Plattformen: Was Klicks bringt, überlebt. Was erklärt, verliert.
Über algorithmische Radikalisierung und Neurotizismus wird in Qualitätsmedien kaum gesprochen. Nicht, weil sie selten wären, sondern weil sie zu real sind. Die Aufarbeitung ist unbequem und passt nicht ins monetäre Konzept. Weil sie keine Einschaltquote bringt. Weil sie niemanden strahlen lässt. Und weil sie etwas sichtbar machen würde, das viele lieber nicht sehen: dass selbst kluge, reflektierte Menschen manipulierbar sind. Und es längst wurden.
Wer wirklich erklärt, verliert. Weil Erklärungen zu lang sind. Zu sachlich. Zu unspektakulär.
Einige wenige bieten Alternativen gegen diese Mechanik – etwa Kolumnisten wie Sascha Lobo, der mit Witz und Geduld erklärt statt zu skandalisieren. Ebenso leisten Stimmen wie Alice Hasters (Rassismusanalyse und Repräsentation), Hadija Haruna-Oelker (Migration und Jugend), Frederik Obermaier (investigatives Aufdecken von Machtstrukturen) und Bernhard Pörksen (kritische Reflexion medialer Dynamiken) wichtige Arbeit. Aber sie bleiben eher Ausnahmen in einem Medienumfeld, das Empörung belohnt.
Schlussgedanken
Neurotizismus ist kein Makel, sondern ein Teil der menschlichen Verfasstheit.
Allerdings in einer Medienumgebung, die Angst verstärkt statt Vertrauen zu schaffen, kann diese Sensibilität eine offene Flanke bedeuten. Wer verletzlich ist, bekommt noch mehr Verletzung geliefert. Wer Halt sucht, findet Parolen. Wer Ruhe braucht, trifft auf Empörungsmaschinen.
Es wäre eine Aufgabe von Politik und Medien, diesen Resonanzraum nicht den Lautesten und Einfachsten zu überlassen. Denn wer Unsicherheit nicht ernst nimmt, überlässt sie jenen, die sie für Machtzwecke instrumentalisieren. Genau das ist gut zu beobachten.
Vielleicht müssten wir lernen, dass Erklärungen nicht verlieren müssen. Dass Langsamkeit kein Makel, sondern eine Stärke ist. Und dass Aufklärung nicht strahlen will, sondern leuchten kann, leise, aber zuverlässig.
Dilemma-Knoten.
Nachrichtenkonsum wie er heute funktioniert (Breaking-News-Takt, Empörungslogik, Clickbait) macht viele eher ängstlicher und manipulierbarer. Besonders die, die schon eine hohe Sensibilität für Unsicherheit haben.
Komplett wegschauen ist jedoch auch keine Lösung. Sonst überlässt man die Deutungshoheit erst recht denen, die lauter und schlichter schreien. Und man möchte sich ja umfassend informieren.
Das eigentliche Problem ist nicht Nachrichten ja oder nein, sondern die Form von Nachrichten.
Möglichkeit 1: Diät statt Verzicht.
Bewusst auswählen, wie viel und welche Quellen man konsumiert. Einmal am Tag statt Dauerstrom. Lange Stücke lesen statt Schlagzeilen durchscrollen.
Möglichkeit 2: Kontextquellen bevorzugen. Statt Talkshow und Eilmeldung lieber Analysen, Dossiers, Interviews, Podcasts mit Tiefe. Das entschleunigt und entzieht der Empörungsmaschinerie Energie. Lässt Raum für weitere und tiefere Sichtweisen.
Möglichkeit 3: Entscheidung auf Basis von Prinzipien statt Stimmungen. Wenn man sich politisch oder gesellschaftlich orientiert, reicht es oft, die Grundwerte und Faktenlage zu kennen und nicht jede Schlagzeile. So verhindert man, dass man täglich durch das Empörungswetter gezogen wird.
Vielleicht müsste die Formel also heißen:
Nicht keine Nachrichten, sondern andere Nachrichten. Nicht öfter, sondern klüger.

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