Es ist Februar. Ein grauer kalter Morgen mit 7 Grad. Die Natur karg.
Mikroszene 1 – Das Urteil an jungen Müttern
Ein Mann im mittleren Alter und im Rot-Kreuz-Dress sitzt im Bus am Fenster, der Regen zieht dünne Fäden auf der Scheibe. Er ist müde, der Geruch von Desinfektionsmittel klebt noch an ihm.
Neben ihm eine junge Frau mit rotem Wollschal. Kopf gesenkt, Daumen wischen übers Display. Zwei Kinder, vielleicht vier und sechs, zappeln auf dem Sitz, treten gegeneinander, lassen eine Trinkflasche fallen. Sie sagt nichts.
Kein Blick für die Kleinen, denkt er. Wahrscheinlich die ganze Zeit am Chatten.
Verdammte Handys!
Er schüttelt kaum merklich den Kopf, steht an der nächsten Haltestelle auf, drückt sich an den Leuten vorbei und steigt aus.
Makroleben 1
Die junge Frau mit dem roten Schal umklammert ihr Handy, als könne es ihr sonst entgleiten. Die Fingerspitzen sind schon ganz weiß, als hätte sie seit Stunden nicht mehr losgelassen.
Sie liest die Nachricht wieder und wieder, presst die Augen kurz zusammen, atmet flach. Die Kinder dürfen nichts merken.
Ihre ältere Schwester kommt ins Krankenhaus, dritter Stock, Onkologie: Brustkrebs.
Die Kinder schlafen heute bei ihr. Morgen auch. Sie weiß nicht, wie lange noch.
Sie muss noch zum Arzt.
Mikroszene 2 – Das Urteil an den Schweigsamen
Sie sitzt im Wartezimmer neben einem alten Mann im braunen Mantel. Graues Haar, tiefe Falten, starre Augen. Er schaut auf den Boden, keine Reaktion, kein Gruß. Kein Augenkontakt.
Typisch, denkt sie. Bloß nicht freundlich sein. Wahrscheinlich der Meinung, wir Jungen hätten sowieso keinen Anstand mehr.
Wie unfreundlich!
Makroleben 2
Der alte Mann im braunen Mantel bewegt den Kopf kaum. Aus dem Augenwinkel nimmt er die junge Frau neben sich wahr, mehr nicht. Ohne Hörgerät ist alles gedämpft, wie unter Wasser. Fragt er nach, muss er dreimal bitten – jedes Mal ein winziger Stich Scham.
Also wartet er still, bis er laut aufgerufen wird. Als er aufsteht, nickt er kaum merklich, holt sein Rezept am Tresen und geht langsam hinaus.
Draußen hängt eine nasskalte Dunkelheit zwischen den Straßenlampen wie ein schwerer Vorhang.
Er muss noch in den Supermarkt.
Mikroszene 3 – Das Urteil an den Dränglern
Er schiebt den Wagen langsam durch den Gang mit den Backwaren, sucht noch die Milch. An der Kasse, hinter ihm, eine Frau mit grüner Einkaufstasche, darauf ein aufgenähter Stoffpatch. Die Frau drängelt und legt noch vor ihm die Ware aufs Band.
Geht’s noch? denkt er. Früher hätte man sich hinten angestellt. Wegen den paar Sekunden.
Immer diese Drängler!
Makroleben 3
Der Blick der Frau mit der grünen Einkaufstasche springt immer wieder zur Uhr, als könnte sie den Zeiger mit bloßer Willenskraft vorantreiben. Das Insulin in ihrer Tasche drückt gegen die Milchpackung, ein stummer Mahner. Die Hände zittern schon leicht, der Puls hämmert in den Schläfen. Nur noch zahlen, etwas essen, den Körper wieder zurückholen.
Draußen fährt die Straßenbahn heran, die Türen öffnen sich mit einem kurzen Zischen.
Sie steigt ein.
Mikroszene 4 – Das Urteil an der Jugend
Drinnen setzt sie sich ans Fenster, trinkt in kleinen Schlucken einen Saft. Das Zittern lässt langsam nach. Zwei junge Menschen steigen ein – er mit einer gelben Mütze, sie mit einem Rucksack, an dem ein bunter Schlüsselanhänger klappert. Sie reden leise, lachen zwischendurch so offen, dass sich ein paar Köpfe drehen.
Die haben gut lachen, denkt sie. Kein Wunder, wenn man noch keine Verantwortung hat und noch lange bei Mutti wohnt.
Das Lachen der beiden nervt!
Makroleben 4
Das Paar mit der gelben Mütze und dem klappernden Schlüsselanhänger sitzt dicht beieinander, die Finger ineinander verschränkt, als wäre das selbstverständlich. Zwischen zwei leisen Sätzen blitzt immer wieder ein kurzes, helles Lachen auf. Das Gespräch im Foyer klingt noch nach: Wir melden uns bald – das sieht gut aus.
Vielleicht der Beginn von etwas Festem. Endlich die erste gemeinsame Wohnung. Das Lachen ist kein Leichtsinn.
Es ist ein Aufatmen.
Reframing – Enturteilt
Es ist Mai. Ein frischer Frühlingstag mit 7 Grad. Die Natur hat Farbe bekommen.
Alle vier Leben sind hier zufällig versammelt. Vergessen, dass sie schon einmal nebeneinander waren.
Der Raum riecht nach einer Mischung aus Desinfektionsmittel und dem leicht süßen Kaffee, der in der Thermoskanne auf dem Tisch der Ehrenamtlichen steht. Reihen von Liegen.
Nebenan stapeln Hände Brötchenhälften. Gleichmäßiges leises Piepen der Geräte und gedämpftes Gemurmel lässt die Leute mit ihrem Ich alleine.
Der Rot-Kreuz-Mann mittleren Alters legt die Kanülen, wie er es seit Jahren macht. Er beginnt bei der Frau im roten Schal. Sie blickt aufs Handy, Daumen wischen übers Display. Er sagt zu ihr, dass seine Frau auch immer ihr Handy mitgenommen hat, damit die Zeit schneller umgeht. Bis vor zwei Jahren… dann bricht er stockend ab.
Ein paar Liegen weiter sitzt der alte Mann im braunen Mantel, den Blick auf den Boden gerichtet. Die Frau mit rotem Schal sieht ihn kurz an. Diesmal wirkt es nicht abweisend, sondern ruhig. Diese Ruhe beruhigt auch sie – sie ist das erste Mal da.
Die Frau mit der grünen Einkaufstasche drängelt leicht, um eine freie Liege zu erwischen. Der alte Mann im braunen Mantel denkt: Genau so, je schneller wir hier durch sind, desto mehr Blutbeutel kommen heute zusammen.
Das Paar mit der gelben Mütze und dem klappernden Schlüsselanhänger sitzt dicht beieinander, lacht leise, flüstert kurze Sätze. Die Frau mit der grünen Einkaufstasche lächelt unwillkürlich zurück. Für einen Moment denkt sie an ihre erste Liebe – und das Grau der Raumdecke verliert an Gewicht.
Sie liegen da, pressen den Gummiball, sehen zu, wie das Blut in die Beutel läuft.
Makroleben Zero
Vielleicht ist das Makroleben nichts anderes als ein Flickenteppich aus falsch geschnittenen Mikroszenen, die zur falschen Zeit unsere Aufmerksamkeit bekommen – bis wir eines Tages merken, dass wir alle in demselben Spot(t)licht stehen.
Oder, wie man bei uns im Dorf lakonisch sagt:
Jeder hat sein Päckchen zu tragen.
–
(Bild KI generiert)

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