Vier Blicke in den Abgrund

Robert Lembke fragt:

„Welches Schweinderl hätten S’ denn gern?“

Zur Wahl stehen: Das opportunistische aus braunem Gummi, das langweilige aus Plüsch, das blutige aus Fleisch oder das widerstandsfähige aus natürlichem Porzellan, das aber schnell kaputt geht.

Es passiert nicht irgendwann. Es passiert jetzt. Wir sehen es durch vier Fenster.

Der politische Akteur – Ingenieur des schleichenden Umbaus

„Machen Sie Menschen glücklich/zufrieden?“

Er weiß: Demokratien enden selten mit einem Knall. Sie sterben an Paragrafen, Protokollen, “technischen Anpassungen”. Er studiert 1933 nicht als Mahnung, sondern als Blaupause. Er spricht von Reformen, die wie Schutzzäune klingen und Fangnetze sind. Krisen, ob echt oder inszeniert, sind sein Kapital. Jede Ausnahme bleibt, wenn der Ausnahmezustand vorbei ist.

Wer Schritt für Schritt marschiert, erreicht das Ziel, bevor jemand merkt, dass es bergab geht.

Der Konsument – Gut gelaunter Passagier

„Können Sie diesen Dienst an mir vollbringen?“

Er lebt im Takt von Rabatten, Serien und Wochenendtrips. Schlagzeilen liest er wie Wetterberichte: kurzes Stirnrunzeln, weiterblättern. Er glaubt, “die da oben” werden schon nichts tun, was zu gefährlich ist, sonst würden sie nicht wiedergewählt. Wenn doch, dann heißt es: “Das Beste draus machen.”

Dass der Boden unter ihm hohl wird, merkt er erst, wenn er einsackt.

Der Unterstützer – Stiller Verstärker

„Ich gebe weiter an den Hass

Er hält sich für unpolitisch, aber seine Likes und Shares schmieren das Getriebe des Umbaus. Er nennt Hetze “Meinungsfreiheit”, Flüchtlinge und Hilfsbedürftige “Schmarotzer” und Widerspruch “Zensur”. Er glaubt, Fragen zu stellen, während er längst Antworten weiterträgt.

Er steht nicht am Rednerpult, er steht im digitalen Publikum und klatscht an den falschen Stellen.

Der, der es kommen sieht – Rufer ohne Echo

„Könnte auch ich zu Ihnen kommen?

Er erkennt die Muster aus der Geschichte und hört, wie Sprache verroht, wie Grundrechte zu Privilegien werden. Er warnt und wird als linksradikaler Hysteriker diffamiert.

Er muss wählen: weiterreden und sich abnutzen oder schweigen und zusehen, wie sich die Schleusen öffnen.

Schlussbild

Vier Fenster, vier Blickwinkel, derselbe Horizont – schwarzgrau, kalt und wabernd.

Einer gestaltet den Nebel, einer ignoriert ihn, einer verstärkt ihn, einer schreit hinein.

Hinter dem Horizont, weit nach 2033

Der politische Akteur wird verhaftet.
Nicht wegen einer Revolution, sondern weil er als Homosexueller in der neuen Ordnung keinen Platz mehr hat. Er floh zunächst ausgerechnet in den Iran, der 2027 eine Demokratie gegründet hat und dort mehr Freiheit bietet als sein altes Heimatland. Dort traf er auch einen alten Widersacher, einen Kinderbuchautor, der die neue Demokratie im Iran mit aufgebaut hat, hier sehr geschätzt wird – und vor Jahren schon vor dem Verfall der Demokratie in Deutschland gewarnt hatte.

Im Iran kann der ehemalige Akteur nicht bleiben, weil er als Demokratiefeind und früherer Unterstützer der Mullahs erkannt wird. Die Auslieferung an sein Heimatland steht im Raum, samt dortiger Einweisung in die ZAKW (Zentralanstalt für Korrektur und Wiedereingliederung).

Offiziell Resozialisierung.
In Wahrheit: Umerziehung bis zur Aufgabe der Persönlichkeit.

Der Unterstützer bricht zusammen.
Die Sommerhitze treibt ihn an den Rand, aber Hitzeschutz gibt es nicht. Ganz offiziell, weil der Klimawandel per Dekret einfach abgeschafft wurde.
Das Gesundheitswesen ist marode. Schweden wäre sein Ziel, aber sie nehmen keine Wirtschaftsflüchtlinge aus Mitteleuropa. Die Stimmung gegen deutsche Flüchtlinge ist dort schlecht, weil sie angeblich Leistungen erschleichen würden.

Sein Traum war ursprünglich die Schweiz, denn deutschsprachige Teile wurden 2037 – gestützt auf die neue militärische Schlagkraft seit dem Sondervermögen – mit Waffengewalt von Deutschland annektiert. Allerdings sind diese Gebiete von politisch Verantwortlichen bewohnt.

Er muss ins Auffanglager in Spanien. Dort sind es 43 Grad. Viele kommen auf dem Weg um – Hitze, Wassermangel und durch nächtliches Verschwinden. Die Welt interessiert das nicht…

Von dort geht es weiter in das LBM (Lager für Bildung und Meinungsanpassung).

Offiziell Schulung.
In Wahrheit: Entkernung.

Der Konsument verliert alles außer seinem Streaming-Abo – bei NIUS, dem mächtigsten Medienkonzern des Landes. Als der Strom rationiert wird, sitzt er im Dunkeln und fragt sich, wann alles so kompliziert wurde. Er ärgert  sich über den Strompreis, der seit der Wiederinbetriebnahme einiger AKWs explodiert ist. Seine Rente, die er seit seinem 72ten Lebensjahr bezieht und auf 30 % gekürzt wurde, reicht schon lange nicht mehr.

Zum Glück gibt’s subventionierte Babynahrung für den „Volksaufbau“. Weich genug, um sie auch ohne Zähne zu kauen. Früher, erinnert er sich, hat er gern Zigeunerschnitzel bestellt. Damals gab es noch andere Probleme.

Er wird in das VEK (Verwertungs- und Effizienzkollektiv) gebracht.

Offiziell Arbeitsplatzvermittlung.
In Wahrheit: Ausschlachten der letzten Kraftreserven.

Der, der es kommen sah, lebt noch. Irgendwie. Er schweigt. Nicht, weil er unrecht hätte, sondern weil niemand mehr zuhört.

Was soll er auch ausrichten?

Er wurde nach der “kulturellen Erneuerung“ ins LSH (Langzeit-Sicherheitsverwahrung Hochrisiko) überstellt.

Offiziell Schutzmaßnahme.
In Wahrheit: Isolation, bis er bricht.

Ende der Illusion

Die vier Lager waren nie das Ende. Sie waren nur Vorspiele, damit man weiß, wohin man gehört.

Türen schlagen, Transporter knirschen, stehen bereit für den Abtransport.

Ziel: die “Hauptanlage West”, ein gigantischer Industriekomplex.

Der Sirenenton ist derselbe wie in der ZAKW, im LBM, im VEK und im LSH, nur viel lauter.

Keine Ankunft, nur eine Fortsetzung.

Als sie aussteigen, stehen sie bereits in der Halle. Der Boden ist derselbe graue Beton, die Luft dieselbe kalte Mischung aus Öl, Metall und verbranntem Staub.

Nur die …ihre… “Aufgabe“ ist neu.

Nun stehen sie, Schulter an Schulter, an derselben Werkbank. Keiner spricht. Alle tragen denselben blauen Overall – die Farbe der Einheitspartei, welche die Altparteien abgelöst hat.

An der rechten Schulter das Wahrzeichen der Regierung:

Ein roter Pfeil, der von links nach rechts oben zeigt und irgendwie an einen erigierten Penis erinnert.

Vor ihnen laufen Drohnen vom Band.

Für den Krieg gegen England.

Robert Lembke fragt noch einmal:

„Welches Schweinderl hätten S’ denn gern?“

Die vier stehen bereit.
Keines lächelt.
Alle riechen nach Angst, Schweiß und verbranntem Staub.
Eins frisst dich von innen,
eins von außen,
eins langsam,
eins sofort.

“Ich hoffe, es hat Ihnen ein bisschen Spaß gemacht und Sie laden uns wieder zu sich ein beim nächsten ‚Was bin ich‘?“

„ ….und damit zurück ins Publikum – vielleicht sitzen Sie ja schon in der nächsten Runde hier.“

Pigs – Four Different Ones (Animals 2025)

Robert Lembke – Was bin ich?

Hinterlasse einen Kommentar