Artikel 146 GG – Schlupfloch der Ewigkeit?

Gedanken zu einem Szenario, das kaum jemand denken will.

Jette Nietzard, die derzeitige Co-Vorsitzende der Grünen Jugend, bringt für viele bereits einen Dreifach-Trigger mit:

jung, grün, weiblich.

Das reicht manchen, um reflexhaft zu diffamieren, völlig egal, was sie sagt. Es geht dann nicht mehr um Inhalt, sondern um Projektion. Nicht um Argumente, sondern um schablonenhafte Ablehnung.

Über die Wortwahl von Jette Nietzard kann man natürlich streiten und über ihre politische Haltung lässt sich immer diskutieren.

Aus einem RBB-Podcast:

Ich habe mir in letzter Zeit viele Gedanken über die AfD gemacht – besonders mit Blick auf die Bundestagswahl 2029. Ich frage mich wirklich, ob wir gerade einen Punkt verpassen, an dem wir später sagen werden: Da hätte man stärker eingreifen müssen. Wie vorbereitet ist unsere Zivilgesellschaft, wie vorbereitet sind unsere Parteien darauf, dass 2029 eine gesichert rechtsextreme Partei in Deutschland regieren könnte? Was würde das konkret bedeuten? Würden dann weiterhin Parteien im Bundestag sitzen und versuchen, die AfD inhaltlich zu stellen? Kann ich dann noch mit verschränkten Armen in eine Kamera schauen und sagen, wie schlimm Rechtsextreme sind? Darüber müssen wir nachdenken auch darüber, wie Widerstand in so einem Fall aussehen kann. Wäre der nur intellektuell? Oder müssten wir auch zu den Waffen greifen? Ich will keine Panik verbreiten. Ich will nur, dass wir uns fragen: Sind wir bereit?

Es ist wieder einmal die Jugend, die radikale, aber durchaus notwendige Fragen stellt. Ich finde zur richtigen Zeit.

Die Frage ist wahrlich nicht bequem, auf mich wirkt sie sogar irgendwie wütend-resignierend, aber das Szenario „Was ist, wenn?“, das sie andeutet, ist nicht irreal, sondern denkbar und darum auch gefährlich. Auch für ihre pöbelnden Kritiker.

Der vergessene König

Unsere Demokratie basiert nicht auf der Macht von Parteien, sondern auf der Autorität unserer Verfassung. Sie ist der eigentliche „souveräne König“ im politischen System. Nicht im Namen Gottes, nicht im Namen einer Ideologie, sondern im Namen des Volkes. Alle Macht ist an sie gebunden, und jede politische Handlung ist nur legitim, solange sie sich innerhalb ihres Rahmens bewegt.

Bemerkenswert still bleibt es ausgerechnet dort, wo man ein Zusammenrücken um die Verfassung erwarten dürfte: im Bildungsbürgertum, unter Medienschaffenden, in der politischen Mitte. Statt sich auf das zu besinnen, was uns schützt, wird nach neuen Leitbildern gesucht, dabei liegt das tragfähige Fundament längst vor. Ein System, das uns in Freiheit, Sicherheit und Wohlstand leben lässt und dessen Strahlkraft für viele ein Migrationsgrund ist. Das ist oder wäre ein verbindender Punkt: Alle versammeln sich unter unserer Verfassung Man wäre eine Gemeinschaft, die Vorteile aus ihr zieht und sie deshalb schützt.

Der gefährliche Konjunktiv und die Verdrehung der Rollen

Im Kern nochmal die Frage bzw Gedankengang:

„Wie müsste unser Widerstand gegen eine regierende rechtsextreme Partei aussehen? Wäre der nur intellektuell? Oder müssten wir auch zu Waffen greifen…?“

Diese hypothetische Frage hat gereicht, um das Netz in Brand zu setzen. Was als eindringlicher gedanklicher Weckruf formuliert war, wurde in Kommentarspalten, rechtspopulistischen Blasen, Teilen der Leitmedien und Parteienlandschaft reflexhaft umgedeutet:

Aus einer Frage wurde eine angebliche Kampfansage. Aus einem Warnruf wurde eine „linke Bedrohung“. Aus demokratischer Vorsorge wurde Verfassungsfeindlichkeit. Die kognitive Verdrehung ist ebenso durchschaubar wie wirkmächtig:

Wer heute laut fragt, wie Widerstand gegen autoritäre Macht aussehen kann, wird selbst zur Gefahr erklärt, während die eigentliche Bedrohung sich parlamentarisch verkleidet.

Über demokratisch agierende Parteien und deren Politik kann (soll…) man streiten, es ist aber wichtig zu verstehen, ob sie innerhalb unserer Verfassung agieren. Absurderweise profitieren Parteien, die außerhalb agieren und Sympathisanten dieser Parteien in hohem Maße von unserer jetzigen Verfassung. Allerdings wird der notwendige Schutz der Verfassung, von ihnen umgedeutet als „Unterdrückung einer (ihrer) Minderheit“, um sich in der Opferrolle zu üben.

Diesem Gedankengang werden sie daher wenig abgewinnen können, denn, wenn sie Pro Verfassung wären, wäre das eigentlich ihr eigener parlamentarischer Suizid.

Lange galt nur ein Teil der AfD als rechtsextrem, einzelne Landesverbände wie Thüringen oder die innerparteiliche Strömung „Der Flügel“. Doch seit Mai 2025 stuft das Bundesamt für Verfassungsschutz nun die gesamte AfD als „gesichert rechtsextremistische Bestrebung“ ein. Das bedeutet: Nicht mehr nur Einzelpersonen oder Regionen, sondern die Partei in ihrer Gesamtheit wird als aktiv verfassungsfeindlich bewertet. Zwar läuft derzeit ein juristisches Verfahren gegen diese Bewertung, doch die inhaltliche Einschätzung des Inlandsgeheimdienstes steht. Sie verändert den Charakter der politischen Auseinandersetzung grundlegend.

Demokratisch in den Abgrund – die Lehren aus Weimar

Die Weimarer Republik wurde nicht von Putschisten gestürzt, sondern von parlamentarischen Mehrheiten entkernt. Die Nazis kamen legal an die Macht, das Ermächtigungsgesetz wurde mit den Stimmen konservativer Demokraten beschlossen.

Die Lehre daraus ist bitter und klar: Demokratie kann sich selbst abschaffen, wenn sie sich nicht selbst verteidigt.

Artikel 20 Abs. 4 GG: Die letzte Sicherheitslinie

Unser Grundgesetz ist kein naives Dokument. Es kennt die Gefahr. Es sagt in Artikel 20 Abs. 4:

„Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“

Ein Satz wie ein Notausgang: still, unspektakulär, aber entscheidend. Er ist kein Aufruf zur Gewalt, sondern eine Ultima Ratio, wenn alle anderen Mittel versagt haben.

Tyrannenmord: Mythos, Ethik, Dilemma 

Er taucht im Kontext manchmal auf und der Begriff klingt archaisch, brutal, fremd: Tyrannenmord. Und doch liegt darin eine alte politische Frage: Gibt es Situationen, in denen moralische Pflicht über geltendes Recht hinauswächst?

Historisch verhandelt von Brutus bis Stauffenberg, juristisch nicht gedeckt, ethisch extrem, aber gedanklich nie verschwunden. Der Gedanke daran – als letztes Mittel gegen totalitäre Herrschaft – lebt fort, weil er die Ohnmacht des Rechts gegen die totale Macht markiert.

Unsere Verfassung kennt diesen Begriff nicht. Aber sie kennt die Lage, auf die er zielt.

Das 2029-Szenario: Wenn 67 % die AfD wählen

Was, wenn die AfD mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit regiert und beginnt, das Grundgesetz zu ändern, das Verfassungsgericht umzubauen, kritische NGOs zu zerschlagen, ein ethnisiertes Staatsvolk zu definieren?

Dann wäre nicht nur Politik in Gefahr, sondern die übergeordnete Ordnung, die sie begrenzen soll.

Als Reaktion auf genau diese Gefahr hat die frühere Ampelkoalition gemeinsam mit der Union 2024 eine Grundgesetzänderung beschlossen, um das Bundesverfassungsgericht institutionell abzusichern. Ein Schritt, der zeigt: Der Umbau der Demokratie von innen kann nicht allein durch Appelle verhindert werden. Er muss institutionell antizipiert und verfassungsfest eingehegt werden.

Vom freien Willen zur gelenkten Masse. Eine mögliche Strategie

Doch selbst ohne 67 % lässt sich eine Demokratie systematisch entkernen, mit einfacher Mehrheit, ob mit oder ohne Koalition:

-Einschränkung von Medien, Bildung, Versammlungen

-Personelle Umdeutung der Justiz,

-Unterwanderung öffentlicher Debattenräume durch Desinformation.

Was vorher nicht mit Gewalt geht, geht mit Geduld und Strategie. Es wäre nur eine Frage der Zeit, bis eine notwendige Zweidrittelmehrheit hergestellt wäre – mit demokratischer Zustimmung der Wähler.

Die Strategie ist zudem mehrdimensional:

Putin wird sich die Chance nicht nehmen lassen. Nicht mit Panzern, sondern mit Posts und finanzieller Unterstützung staatszersetzender Kräfte. Diese Beeinflussungen sind jetzt schon deutlich sicht- und spürbar.

Welche Rolle die USA dabei spielen, mag unklar sein, aber mit Trump und später Vance wird es keine gute sein. Ein konkreter Blick in die US-Zukunft: Wenn autoritäre Republikaner NGOs kriminalisieren, Gerichte umpolen und das Wahlrecht gezielt beschneiden, dann dient das nicht der Demokratie, sondern ihrer Sabotage. Wer das als „nur amerikanisch“ abtut, unterschätzt die Signalwirkung für Europas Rechte.

Das europäische Umland? Kommt darauf an, welche rechtspopulistischen Kräfte dort mitregieren. Die Bedrohung unserer Demokratie ist jedenfalls nicht isoliert.

Ewigkeitsklausel: Auch die Ewigkeit hat ein Schlupfloch.

Artikel 79 Absatz 3 GG stellt sicher, dass Änderungen dieses Grundgesetzes, die die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Prinzipien betreffen, unzulässig sind. Das bedeutet: Kernwerte wie die Unantastbarkeit der Menschenwürde, das Demokratieprinzip und die Rechtsstaatlichkeit können nicht mit einfacher Mehrheit geändert oder abgeschafft werden. Diese Bestimmung soll verhindern, dass demokratische Prinzipien auch nur teilweise ausgehöhlt werden, egal, wie stark die politische Mehrheit ist.

Doch die Ewigkeitsklausel schützt nicht vor indirekter Aushöhlung. Was, wenn die öffentliche Meinung und politische Kontrolle durch Manipulation und Desinformation so beeinflusst werden, dass der Widerstand gegen eine rechtsextreme Mehrheit quasi unsichtbar wird? Was, wenn die Verfassung durch politische Überzeugungen ersetzt wird, die nicht mehr dem demokratischen Ideal entsprechen, unter dem Deckmantel einer formal demokratischen Entscheidung?

In Artikel 146 GG steht:

„Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“

Das klingt demokratisch. Ist es auch. Aber was, wenn die Entscheidungsgrundlage nicht mehr frei ist? Was, wenn das „Volk“ durch eine systematische Manipulation längst auf einem falschen Ast sitzt, gelenkt durch Desinformationsnetzwerke, algorithmisch verstärkte Empörungswellen, gezielte Angstnarrative und Feindbildpflege, die Dämonisierung aller demokratischen Institutionen?

Was, wenn das „Volk“ nicht mehr zwischen Lüge und Wahrheit unterscheiden kann?

Dann wäre die Entscheidung zwar formal demokratisch, aber inhaltlich vergiftet. Und wir kennen diese vergifteten Wahlentscheidungen: Brexit, Trump etc. Und mittlerweile gehen die Umfragewerte für die AfD hoch – und dies trotz Bekanntheit ihrer Absichten.

(Oder doch schon „gerade wegen ihren Absichten“ …?)

Kommentarspalten als Symptom

Die Vergiftung hat längst begonnen. Wie oben schon mit der möglichen Strategie beschrieben, dokumentieren Kommentarspalten, wie eine Gesellschaft ihre eigenen Immunzellen angreift. Die Demokratie wird nicht daran scheitern, dass sie zu spät reagiert, sondern daran, dass sie zu früh warnende Stimmen zum Schweigen bringt.

Widerstand ist dann keine Option mehr. Sondern Pflicht. Nicht romantisch. Nicht ideologisch. Sondern nötig. Weil die Alternative Selbstverrat wäre. Nicht die junge Jette Nietzard ist die Gefahr, sondern das alte Schweigen.

Fragen, die nach der Empörung bleiben

Was, wenn Demokratie nicht mehr verteidigt werden darf, sondern verteidigt werden muss? Wie handeln wir dann als angeblich verfassungstreuer Bürger:innen?

Würdest du den Mut aufbringen, Widerstand zu leisten, nicht mit Gewalt, sondern mit Klarheit, mit Haltung, mit Risiko?

Und… für wen würdest du es tun? Für eine Partei oder für unsere derzeitige freiheitlich-liberale Verfassung?

2 Antworten zu „Artikel 146 GG – Schlupfloch der Ewigkeit?”.

  1. Starke Analyse, der Boomer Artikel. Darf ich ihn mit ausgewählten Personen teilen?

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    1. Danke! Und natürlich, du darfst gerne teilen.

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