Entmenschlichung im Verteidigungsfall
Vorwort: Dieser Text ist kein Plädoyer. Er ist eine Zumutung. Für alle, die glauben, Menschenwürde sei verhandelbar.
Er ist auch kein Versuch, alles auszuleuchten. Er ist ein Versuch, nicht zu erblinden. Ich will keine Feindbilder schaffen, sondern verhindern, dass wir zu Funktionären unserer eigenen Entfremdung werden.
Amira Hass (israelische Journalistin, Haaretz): „Gaza ist kein Gefängnis. Gaza ist der Test, wie viel Gewalt eine Demokratie gegen ein anderes Volk ausüben kann, ohne die eigene Moral zu verlieren.“
Gideon Levy (Haaretz-Kolumnist): „Wir haben unsere moralische Immunität verloren. Wir glauben, jede Bombe sei gerechtfertigt, solange sie nicht auf uns fällt.“
Wenn Leben sortiert wird
Die Sprachlosigkeit deutscher Politiker:innen und vieler Medien angesichts von zehntausenden Toten in Gaza ist nicht nur irritierend, sie ist beunruhigend. Dass angesichts dieser Opferzahlen kein öffentlicher Aufschrei dominiert oder sogar etwaige „Aufrufe für Menschlichkeit“ absichtlich umgedeutet werden, ist ein Armutszeugnis für jede Demokratie und Medien, die sich auf Humanität berufen.
Wer das Leben eines israelischen Kindes schützt, muss auch das Leben eines palästinensischen Kindes schützen. Bedingungslos. Wer Freiheit sagt, darf nicht Schweigen meinen, wenn Bündnispartner bombardieren.
Menschenrechte gelten nicht selektiv. Und Humanität ist kein politisches Lager.
Wenn das Leben sortiert wird, wenn das Leben eines israelischen Kindes als unantastbar gilt, aber das Leben eines palästinensischen Kindes als „Kollateralschaden“ verbucht wird, dann ist das keine Verteidigung mehr. Dann ist das ein Weltbild, das sortiert.
Nach Herkunft. Nach Zugehörigkeit. Nach vermeintlicher Bedrohlichkeit.
Sicherheit und Maß
Israel hat ein berechtigtes Sicherheitsbedürfnis – zweifellos. Kein Staat kann auf Dauer unter Raketenbeschuss leben. Kein Staat muss Terror einfach hinnehmen. Wenn jedoch die Antwort auf Massaker darin besteht, zigtausend Menschen zu töten, Wohnhäuser in Schutt zu legen, Krankenhäuser zu bombardieren, dann hat sich etwas verschoben.
Etwas Grundlegendes.
Das Massaker der Hamas – und die moralische Zumutung
Yuval Noah Harari oder Einat Wilf – etwa sinngemäß:
„Der 7. Oktober war nicht nur ein Angriff auf Menschen – er war ein Angriff auf die Idee von Koexistenz.“
Am 7. Oktober 2023 überfiel die Hamas Israel in einem beispiellosen Akt der Brutalität. Es war ein Massaker, gezielt, grausam und entmenschlichend. Nicht „nur“ ein Terroranschlag, sondern ein gezielter Angriff auf das Menschsein selbst.
Über 1.200 Menschen wurden getötet – fast alle Zivilist:innen. Männer, Frauen, Kinder, Babys. Menschen wurden aus ihren Betten gezerrt, erschossen, verbrannt. In Kibbuzim, auf einem Musikfestival, in Wohnhäusern. Geiseln wurden verschleppt, darunter Kinder, ältere Menschen und ganze Familien. Was sie erlebt haben, entzieht sich unserem Vorstellungsvermögen.
Wer das kleinredet, verharmlost nicht nur die Tat, er verletzt auch das Andenken der Opfer und das Mitgefühl der Überlebenden.
Die unbequeme Frage
Gerade deshalb stellt sich für den späteren Kontext eine unbequeme, aber notwendige Frage:
Was wäre, wenn dieses Massaker von einer israelischen Terrorgruppe begangen worden wäre – gegen die eigene Bevölkerung?
Würde die Regierung Israels daraufhin Wohnviertel in Tel Aviv bombardieren? Zehntausende eigene Zivilisten töten, um die Täter zu erwischen?
Würde das israelische Militär Wohnblöcke zerstören, tausende Kinder töten, Krankenhäuser angreifen, im Namen der Verteidigung?
Würde ein demokratischer Staat 60.000 eigene Staatsbürger opfern, zur Verteidigung?
Kein demokratischer Staat würde das tun. Und genau deshalb stellt sich die Frage:
Warum dann beim Anderen?
Und genau das ist der Punkt. Die Unteilbarkeit der Menschenwürde. Warum ist das Leben der Anderen so viel weniger wert?
Das ist keine bloß rhetorische Frage, sondern eine zutiefst menschliche. Eine Frage nach Gerechtigkeit, nach Gleichwertigkeit, nach der Unteilbarkeit der Menschenwürde.
Israel hat, wie kaum ein anderes Land, aus seiner Geschichte einen moralischen Kompass entwickelt. Doch dieser Kompass scheint zu zittern. Gerade jetzt. Gerade unter einer rechtspopulistischen Regierung, die gewaltsame Siedler schützt, Palästinenser entrechtet, Land raubt und internationale Kritik mit der Keule des Antisemitismus abwehrt.
Die Realität der Besatzung
Die Siedlungspolitik in der Westbank ist dabei ein zentraler Konfliktherd: Immer wieder kommt es zu gewaltsamen Übergriffen durch israelische Siedler, zu Landnahmen, zu systematischer Verdrängung palästinensischer Familien. Die israelische Regierung duldet dies nicht nur, sie schützt es politisch. Sicherheitskräfte greifen oft spät oder gar nicht ein, palästinensische Opfer werden selten geschützt. Das ist keine Randerscheinung, sondern Teil einer Strategie, die den Konflikt weiter anheizt.
Stimmen aus Israel – und der Eklat um B’Tselem
Yehuda Shaul (ehem. Soldat, Gründer von „Breaking the Silence“): „Was wir brauchen, ist nicht nur Sicherheit. Wir brauchen Gerechtigkeit. Ohne sie wird es nie Frieden geben.“
Bereits im Januar 2021 veröffentlichte die israelische Menschenrechtsorganisation B’Tselem eine Erklärung, die international für Aufsehen sorgte und in Israel selbst für heftige Kontroversen:
„Der Versuch, ein Regime der jüdischen Vorherrschaft vom Jordan bis zum Mittelmeer aufrechtzuerhalten, ist die Ursache des Leidens – nicht dessen Antwort.“
Diese Diagnose war kein beiläufiger Kommentar, sondern das Ergebnis jahrelanger Beobachtung der Realität in den besetzten Gebieten und Israels offizieller Politik. B’Tselem sprach damit aus, was viele nicht zu sagen wagten: Dass zwischen Israel und den palästinensischen Gebieten nicht zwei gleichberechtigte Akteure agieren, sondern ein strukturelles Herrschaftsverhältnis besteht, mit systematischer Entrechtung, Kontrolle und Gewalt.
Die Reaktionen waren entsprechend heftig: Rechte israelische Politiker warfen B’Tselem „Selbsthass“ und „Delegitimierung Israels“ vor. Auch gemäßigte Kreise kritisierten die Wortwahl als überzogen, insbesondere den Begriff „Regime“.
Doch internationale Organisationen wie Human Rights Watch und Amnesty International folgten bald mit ähnlichen Einschätzungen, sie sprachen offen von Apartheid.
Diese Sichtweise war kein Ausreißer, sondern Teil einer wachsenden, globalen Kritik an einer Politik, die mit demokratischen Werten nach innen wirbt und nach außen hin Besatzung und Ungleichheit verwaltet.
Versäumte Friedenschancen
Was hat Israel unternommen, um den Konflikt zu entschärfen?
Natürlich gab es Ansätze, etwa den Rückzug aus Gaza 2005, den Oslo-Prozess in den 1990ern oder punktuelle wirtschaftliche Kooperationen.
Doch echte Bemühungen für eine gerechte Zwei-Staaten-Lösung? Eine Gleichstellung palästinensischer Rechte? Eine glaubwürdige Friedensinitiative in den letzten 15 Jahren? Fehlanzeige. Stattdessen: Blockade. Belagerung. Siedlungsausbau.
Und eine Regierung, die mit der radikalen Rechten paktiert, statt Kompromissräume zu schaffen. Die Sicherheit verspricht – aber Krieg produziert.
Die Sprache der Macht
Diese Regierung führt, de facto, einen Angriffskrieg mit Verteidigungsetikett. Wer sich traut, das auszusprechen, wird in Israel rasch zum „Nestbeschmutzer“ erklärt. Dort gibt es mutige Stimmen. In der Opposition, in Menschenrechtsorganisationen, unter Künstler:innen und Wissenschaftler:innen. Aber sie werden ignoriert, diffamiert und bedroht.
Wie immer, wenn Macht sich gegen Wahrheit wappnet.
Deutschlands Staatsräson und die Zumutung der Wahrheit
Was bedeutet das für Deutschlands Staatsräson? Wenn sie zur Sprachlosigkeit führt angesichts von tausenden toten Zivilisten und Kindern, dann ist sie fehlgeleitet. Wenn sie Solidarität mit Israel meint, aber nicht mit der israelischen Opposition, nicht mit jüdischen Friedensaktivist*innen, nicht mit den Opfern in Gaza, dann ist sie blind.
Schmerz, Hass, Gewalt
Ich bin mir meiner geschichtlichen Verantwortung sehr bewusst und damit nicht gegen Israel, sondern ich bin gegen Gewalt und gegen Rachepolitik.
Gegen das Abwerten von Menschenleben.
Wenn ich ein Kind in Gaza wäre – und meine Geschwister werden „aus Gründen“ wegbombt – wie sollte ich da nicht hassen lernen? Ist es da verwunderlich, dass aus Schmerz Hass wird und aus Hass irgendwann Gewalt?
Natürlich ist das gefährlich. Natürlich ist Antisemitismus niemals zu entschuldigen. Aber wer auch auslöst, darf sich nicht wundern über die Reaktion. Das ist keine Rechtfertigung. Das ist ein Ruf nach Ursachenanalyse. Wenn wir das nicht mehr wagen, haben wir aus unserer Geschichte nichts gelernt.
Nicht aus der Shoah. Nicht aus dem Krieg. Nicht aus uns selbst.
Einschub zur Komplexität
Wenn man über diesen Konflikt spricht, darf man die Realität nicht vereinfachen, auch nicht aus Empörung. Gaza ist kein klar umrissenes Schlachtfeld, sondern eine der am dichtesten besiedelten Regionen der Welt.
Hamas agiert dort nicht wie eine klassische Armee, sondern nutzt bewusst zivile Infrastruktur zur Tarnung: Schulen, Moscheen, Krankenhäuser, Wohnhäuser. Das ist zynisch und menschenverachtend. Nicht nur gegenüber Israel, sondern auch gegenüber der eigenen Bevölkerung.
Wer sich zwischen Zivilisten verschanzt, nimmt sie als menschliche Schutzschilde und trägt Mitverantwortung für jedes zivile Opfer. Zugleich stellt diese Strategie das israelische Militär vor eine ethisch wie taktisch hochkomplexe Herausforderung: Wie führt man Krieg gegen eine asymmetrische, tief eingebettete Struktur, ohne Zivilisten zu gefährden?
Wie weit geht der eigene Anspruch an Menschlichkeit, wenn die Gegenseite ihn systematisch untergräbt?
Es gibt keine einfache Antwort.
Die Verantwortung der Macht
Human Rights Watch:
„Die gezielte Zerstörung ziviler Infrastruktur in Gaza ist weder durch das Völkerrecht noch durch legitime Selbstverteidigung zu rechtfertigen.“
Aber eines bleibt dennoch gültig:
Je größer die Macht, desto größer die Verantwortung.
Wenn ein Staat mit modernster Aufklärung, mit gezielter Raketensteuerung, mit Satellitenbildern und Lufthoheit dennoch flächig bombardiert, dann darf und muss diese Verantwortung eingefordert werden. Was ist Verteidigung und was wird dafür gehalten?
Moralischer Alptraum
Ein aufschlussreicher Vergleich hilft, das moralische Gefälle in der globalen Wahrnehmung einzuordnen:
Ukraine (bis Mai 2025):
13.341 zivile Tote
32.744 Verletzte geschätzt 70.000–100.000 gefallene Soldat:innen
Verteidigung als Schutzmaßnahme, nicht als Vernichtungslogik. Es werden militärische Ziele angegriffen.
Russland: Führt einen Angriffskrieg. Trifft gezielt zivile Infrastruktur: Stromnetze, Krankenhäuser, Wohnhäuser. Will durch Terror kapitulieren lassen. Krieg als Werkzeug der Unterwerfung.
Israel (Stand Juni 2025):
Wurde am 7. Oktober 2023 angegriffen. Ca. 1.200 Tote beim Überfall, fast alle Zivilist:innen 251 Geiseln, bis heute 148 freigelassen (27 mutmaßlich tot, 50 in Gefangenschaft)
Reaktion: massive Gewalt gegen Gaza Über 57.000–59.600 Tote in Gaza (80–90 % Zivilist:innen)
Über 125.000 Verletzte
Laut israelischer Armee über 21.000 getötete Hamas-Kämpfer.
14000 bis 16000 getötete Kinder.
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Verteidigung mutiert zur kollektiven Bestrafung …
Es stellt sich eine Frage, die nicht mehr verdrängt werden kann:
Ist es nicht ein moralischer Alptraum, dass ein demokratischer Staat, mit all seiner Aufklärung, Technik, historischen Verantwortung, heute in Gaza ein ähnliches Ausmaß an Zerstörung hinterlässt wie Russland in der Ukraine?
Was unterscheidet dann noch Verteidigung von Bestrafung? Wer schützt uns vor der Verwilderung der Macht, wenn sogar Demokratien ihre Maßstäbe verlieren? Wenn ein Staat mit High-Tech-Fähigkeiten nicht präzise unterscheidet, sondern ganze Stadtviertel zerstört –, ist das keine gezielte Selbstverteidigung mehr. Es ist ein Machtbeweis. Einer, der auf dem Rücken von hunderttausenden Zivilisten ausgetragen wird.
Das gehört zur Wahrheit. Und sie tut weh.
Zynischer Postkolonialismus
Und vielleicht reicht all das nicht mehr aus, um es bloß als Doppelmoral zu benennen. Vielleicht ist es ein zynischer Postkolonialismus, der da wirkt – tief verankert im westlichen Denken.
Einer, der mit humanitären Werten argumentiert, aber nach geopolitischem Nutzen selektiert. Einer, der Demokratien als „zivilisiert“ adelt und damit ihre Gewalt legitimiert. Einer, der Solidarität an Staatsgrenzen knüpft, nicht an Menschenrechte.
Das ist ein Rückfall in imperiale Denkmuster, moralisch verbrämt, medial gefiltert, politisch abgesichert.
Vielleicht beginnt dieser postkoloniale Reflex nicht erst mit Gaza. Vielleicht ist er längst Teil unserer westlichen DNA.
Erzählungen der Ausnahme
Am 11. September 2001 sterben knapp 3.000 Menschen bei einem entsetzlichen Terroranschlag in den USA. Die Reaktion? Ein ‘Krieg gegen den Terror’, der mit über einer Million Toten allein im Irak bezahlt wird. Begründet durch einen verlogenen Disney-Flipchart im UN-Sicherheitsrat, professionell animiert, politisch instrumentalisiert. Eine Lüge in PowerPoint, auf Weltbühne serviert.
Jahre später folgte Netanjahu mit ähnlicher Dramaturgie: eine Cartoon-Bombe mit rotem Zünder, präsentiert als Beweis iranischer Apokalypse. Auch das wurde geglaubt, oder gewollt geglaubt. Und wieder legitimierte ein Bild die Bereitschaft zum Krieg.
Und spätestens hier zeigt sich: Nicht nur autoritäre Regime arbeiten mit solchen Erzählungen. Auch der Westen hat sich längst in die Logik der moralischen Ausnahme hineinmanövriert – und sein Vorbild verspielt. Moralisches Vakuum Russland rechtfertigt den Angriff auf die Ukraine mit angeblicher Selbstverteidigung, mit entnazifizierenden Erzählungen, mit historischen Mythen.
Der Westen? Erzählt vom Kampf für Sicherheit, Freiheit und Werte – während er Flächenbombardements duldet, Massensterben relativiert und Doppelmoral zur Doktrin erhebt.
Und entmenschlicht mit der Moralkeule die, die versuchen die Schieflage anzusprechen.
Dabei zeigt sich ein bedenkliches Muster in vielen Leitmedien: Wer Kritik übt an israelischer Regierungspolitik – und sei sie noch so differenziert, noch so empathisch gegenüber allen Opfern – wird reflexartig moralisch etikettiert.
Antisemitismus-Verdacht, Hamas-Nähe, Naivität, das mediale Besteck ist scharf, aber meist nicht differenziert.
Selten wird der Originalton verlinkt. Noch seltener wird der tatsächliche Inhalt fair wiedergegeben. Stattdessen: Kommentarwellen, Entrüstung, Tonanalyse. Die Öffentlichkeit wird so nicht informiert, sie wird emotional konditioniert. Das Resultat ist eine diskursive Zwangshaltung: Wer Empathie wagt, gilt als verdächtig. Wer die eigene Seite kritisch befragt, als unsolidarisch.
Es entsteht eine Atmosphäre, in der Solidarität nicht mehr geteilt werden darf. Wo Mitgefühl selektiv verlangt und bestraft wird, wenn es „falsch verteilt“ wird. Wo man entweder „auf der richtigen Seite“ steht oder gar keine Stimme mehr haben darf.
Das ist eine gefährliche Verrohung.
Und dabei verschwinden die Toten, hinter der Rhetorik.
Moral à la carte – Der Westen und seine Prinzipien
Die westliche Rhetorik ist voll von Prinzipien. Menschenrechte. Freiheit. Demokratie. Wer genauer hinschaut, entdeckt ein anderes Betriebssystem: eines, das Moral situationsabhängig lädt – oder eben nicht.
Die USA gaben sich als Hüterin der Freiheit, während in Guantánamo Menschen ohne Gerichtsverfahren weggesperrt wurden. In Abu Ghraib wurde gefoltert, im Drohnenkrieg exekutiert. Ohne Anklage, ohne Transparenz.
Frankreich intervenierte in Mali und Niger, sprach von Terrorbekämpfung und ließ dabei koloniale Kontinuitäten unangetastet.
Großbritannien zog mit in den Irakkrieg – auf Basis eines Dossiers, das „aufgehübscht“ wurde, um einen Krieg zu rechtfertigen, der über eine Million Tote hinterließ.
Deutschland beklagt Menschenrechtsverletzungen, liefert aber Waffen an autoritäre Regime, schließt Deals mit Diktatoren und ignoriert die Fluchtursachen, die man selbst mitbefeuert.
Diese Form selektiver Moral ist kein Zufall. Sie ist strukturell. Sie legitimiert Macht durch Sprache und verwässert das Maß durch Interessen.
Wer Demokratie predigt, aber Autokraten hofiert, wer Werte beschwört, aber Waffen liefert, wer Freiheit verteidigt, aber Mauern baut, der verliert seine Glaubwürdigkeit. Nicht bei den Mächtigen, sondern bei den Menschen.
Vielleicht liegt genau darin das tiefere Problem:
Dass Begriffe wie „Menschenrechte“, „Verteidigung“, „Zivilisation“ längst kontaminiert sind, durch den Zynismus, mit dem sie benutzt werden.
Hinter der Rhetorik offenbart sich ein Muster: Wer gehorcht, wird gehätschelt. Wer stört, wird bestraft. Und wer nützt, darf foltern, bomben, vertreiben, mit diplomatischer Rückendeckung.
Kein Wunder also, dass westliche Außenminister:innen für ihre wertebasierte Außenpolitik weltweit belächelt werden, wobei belächelt noch nett ist. Denn wer die Weltordnung predigt, aber sie selbst bricht, wer Menschenrechte verteidigt, aber Bündnispartner davon ausnimmt, wer Demokratien schützt, aber Autokratien umarmt, der hat seine Glaubwürdigkeit längst verspielt.
Zynismus in Reinform
Werte, die nur dort gelten, wo sie nicht wehtun, sind keine Werte. Sie sind Fassade. Besonders dann, wenn führende Politiker in Deutschland – wie jüngst Friedrich Merz die israelischen Angriffe im Iran öffentlich als ‘Decksarbeit’ bezeichnen. Als hätte man es mit einem aufgeräumten Kriegslabor zu tun, nicht mit der Vorstufe zum Flächenbrand.
Was für eine Sprache. Was für ein Zynismus. Wenn Israel die ‘Decksarbeit’ macht, wer macht dann eigentlich die Drecksarbeit? In Russland? In Gaza? Im Namen der Sicherheit?
Kollateralschaden“ – die Reinigung der Gewalt durch Sprache
Das Wort Kollateralschaden gehört zu den zynischsten Sprachschöpfungen der modernen Kriegspolitik. Es steht nicht für einen Unfall, nicht für ein Versehen, sondern für eine einkalkulierte Nebenwirkung, die in militärischen Planspielen nüchtern abgehakt wird. Es meint: Menschen. Tote. Kinder. Zerfetzte Körper. Trauer.
Und doch wird es verwendet, als sei es eine technische Variable, eine logistische Unschärfe. Ein Wort, das die Realität nicht beschreibt, sondern verschleiert.
Ein Wort, das nicht trauert, sondern kalkuliert.
Wenn ein Kind stirbt, weil eine Rakete ein Wohnhaus trifft, ist das kein Kollateralschaden. Es ist ein Menschenleben. Ein Verlust. Ein Versagen. Eine Tragödie.
Die Verwendung solcher Begriffe offenbart viel mehr als nur sprachliche Distanz: Sie zeigt die Entfremdung von Verantwortung.
Wer „Kollateralschaden“ sagt, schützt sich selbst, vor der Zumutung der Empathie.
Begriffe verkommen zu Etiketten, Gewalt zu Effizienzmaßnahmen, und Menschenleben zu statistischen Nebeneffekten.
Wenn Sprache die Gewalt schonen hilft, wer schützt dann noch die Wahrheit?

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