Über Verharmlosung, Verantwortung, Empathielosigkeit und die Empörung über Empfindlichkeit
Über 35 Grad. Im Schatten.
Nicht in Andalusien oder der Sahara, sondern in Mannheim, Mainz und München. Die Straßen flimmern, die Luft steht, und auf den Schulhöfen herrscht ein Zustand zwischen Wärmestau und kollektiver Dehydrierung.
Während Meteorolog:innen von einem Jahrhundertsommer sprechen und erste Bundesländer und Städte Hitzeschutzpläne vorstellen, passiert im Netz das, was inzwischen so sicher ist wie das Schwitzen in der Straßenbahn.
Die Kommentarspalten gehen auf Sendung:
„Ist halt Sommer!“
„Früher haben wir das auch überlebt.“
„Jetzt soll der Staat wohl noch das Wetter regeln?“
„Endlich Sommer“
„Jammerlappen“
Mittendrin: die üblichen, durch Stammtischparolen zertifizierten blauen Bundestagsabgeordneten und ein paar vom Bundestag befreite gelbe “Freie“, denen die Hitze scheinbar die letzte Verantwortung aus dem Kopf gebrannt hat.
Vor allem die blaue Klientel und deren Verkündungspropheten übertrumpfen sich mit Sprüchen, selektiv verwursteten oder plump belogene Diagrammen, die selbst bei 40 Grad noch unter der Gürtellinie liegen.
Da wird die Klimakrise zur Panikmache erklärt, Hitzeschutz zur Wohlstandsverwahrlosung, und wer Wasser für Schulkinder fordert, gilt wahlweise als Öko-Hysteriker oder Totalversager.
Es ist ein Sud aus Zynismus, Halbwissen und autoritärer Geltungssucht. Und aus diesem Gebräu werden Parolen gebacken, die jeder denkende Mensch nur noch kopfschüttelnd zur Kenntnis nehmen kann.
Die AfD hat Bürgerinteressen so im Backofen wie den Rechtsstaat in der braunöligen Fritöse. Das Konzept der politischen Verantwortung ist ihnen völlig fremd.
Tragisch nur, weil von der Hitze Betroffene ihr Spiel schwitzend mit(be) spielen.
Fürsorge? Fehlanzeige.
In praktisch jeder Kommentarspalte, in der es ums Wetter geht – egal ob Regen, Schnee oder eben Gluthitze – entfaltet sich dieses seltsame Ritual:
Eine Mischung aus Nostalgie, Trotz, Misstrauen und Empörungsbereitschaft. Es ist, als hätte das Thermometer einen Kippschalter im kollektiven Kurzzeitgedächtnis ausgelöst.
Was als sachlicher Vorschlag gedacht war – Trinkwasser in Schulen, Schattenplätze in Kitas, flexible Arbeitszeiten bei 38 Grad – wird im Handumdrehen zur Angriffsfläche.
Auf die angeblich verweichlichte Gesellschaft. Auf eine angeblich hysterische Politik. Und auf das Klima sowieso, das sich bitte wieder wie 1983 zu benehmen habe.
Vielleicht ist das eigentliche Drama nicht nur die Hitze, sondern dieser Umgang mit ihr.
Die Sommerlüge – oder: Früher war nur das Gedächtnis besser
„Es ist halt Sommer.“ Ein Satz, so harmlos wie eine laue Brise und doch einer der mächtigsten Verdrängungsformeln unserer Zeit.
Natürlich war es früher auch mal heiß. Aber eben nicht so oft, so früh und so lange. Die Statistik ist eindeutig: mehr Hitzetage, mehr Tropennächte, mehr Extremwerte. Früher waren 40 Grad ein meteorologisches Kuriosum. Heute sind sie wahrscheinlicher denn je und sie kommen immer früher.
Was hier passiert, ist ein Klassiker der psychologischen Selbstberuhigung. Das Gedächtnis macht das Wetter von damals angenehmer, weil das Heute unangenehm wird. Die Vergangenheit wird nicht erinnert, sie wird restauriert. Mit Sonnenmilchduft, Freibadpommes und Omas Keller, „wo’s immer kühl war“.
Dass heute Kinder in überhitzten Klassenzimmern kollabieren, Pflegeheime zu Wärmestuben werden und z.B. asphaltierende Bauarbeiter zur Risikogruppe zählen, all das passt nicht ins Bild der nostalgisch idealisierten Hitzekultur.
Also wird relativiert. Gespöttelt. Abgewunken. Nicht, weil die Fakten fehlen, sondern weil das Weltbild nicht gestört werden darf.
Wenn Kinder kollabieren, kommen Stammtischparolen
Trinkwasser in Schulen? Schattenplätze auf Spielplätzen? Flexible Arbeitszeiten bei 38 Grad? Eine Siesta für Pflegekräfte auf der Hitzestation?
In einer funktionierenden Gesellschaft wären das Anlass für pragmatische Lösungen. In Deutschland sind sie Anlass für ein Shitposting-Festival.
„Früher gab’s das auch nicht – wir haben’s überlebt!“
„Die stellen sich doch nur an.“
Diese Sätze entspringen nicht Argumenten, sondern Abwehr. Nicht Sorge, sondern Selbstberuhigung. Und nicht Stärke, sondern Überforderung.
Sie sind zudem empathiefrei.
Betroffen sind längst nicht nur Kinder, sondern auch:
– alte Menschen,
– chronisch Kranke,
– Schwangere,
– Menschen mit Behinderung,
– alle, die bei Hitze körperlich arbeiten – im Bau, im Lieferdienst, in der Pflege,
– und der Rettungsdienst, der bei Kreislaufzusammenbrüchen und Hitzeschocks am Limit fährt – und sich dann von Kommentarspalten erklären lassen muss, dass es „halt Sommer“ sei.
Die Empörung über die Empfindlichen
Kaum wird eine Maßnahme vorgeschlagen, die Schutz oder Rücksicht signalisiert, beginnt ein erstaunlich stabiler Reflex: Empörung über die Empfindlichen.
„Jetzt wird schon Rücksicht auf Schwache genommen – wo soll das noch hinführen?“
Natürlich wird das selten so direkt gesagt. Aber zwischen den Zeilen ist klar: Wer Schutz braucht, stört. Wer Fürsorge einfordert, gilt als verweichlicht. Und wer sich nicht als abgehärtet inszeniert, hat im Hitzediskurs wenig Chancen.
Dabei wäre Fürsorge kein Zeichen von Schwäche, sondern von Zukunftsfähigkeit. Doch je heißer es wird, desto dünnhäutiger scheinen ausgerechnet die, die sich für besonders robust halten.
Klima? Nur wenn’s ins Weltbild passt
Die Datenlage ist klar. Die Zahl der Hitzetage über 35 oder 40 Grad nimmt zu und das nicht nur in Südeuropa. Doch statt Konsequenzen zu ziehen, halten viele lieber an ihrem Wetterbild fest.
„Früher hat ein nasser Waschlappen auch gereicht.“
Das ist die neue Klimastrategie: feucht und folkloristisch.
Einige Städte und Bundesländer reagieren mit Hitzeschutzplänen. Andere weichen aus, ins Anekdotische, ins Bagatellisierende, ins Polit-Markige. Man spricht über Ventilatoren statt über Versorgungsnetze. Über Wasserflaschen statt über Hitzetote. Über Erinnerung statt über Verantwortung.
Fazit: Wenn Schatten fehlt, regiert der Hohn
Vielleicht ist das Schlimmste an dieser Hitze gar nicht die Temperatur. Sondern der Ton, in dem über sie gesprochen wird. Wenn Fürsorge zur Provokation wird, wenn Trinkwasser als Luxus und Schatten als Dekadenz gilt, wenn sich Menschen lieber an ihre Schwitzvergangenheit klammern, als in der Gegenwart Verantwortung zu übernehmen, dann zeigt sich, was wirklich überhitzt ist:
nicht das Klima allein, sondern das gesellschaftliche Nervenkostüm.
Nachtrag:
5 Tage im August 2025, um die 35 °C
Deutschlandweit rund 650 bis 1 950 zusätzliche Tote, je nach Intensität der Hitze und Schutzmaßnahmen. Meist ältere oder gesundheitlich geschwächte Menschen, für die “Endlich Sommer“ das letzte Kapitel bedeutet.
(Basis: Destatis-Tagessterbefälle, RKI-Hitzemortalität, UBA-Studien zu Hitzewellen)

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