Was in den Kommentarspalten über unsere Gesellschaft sichtbar wird und warum genau das so viele so aggressiv macht.
Der Regenbogen als Projektionsfläche
Es ist nur ein Symbol. Trotzdem entfesselt er Abwehrreflexe, wie man sie sonst nur von Warnfarben bei giftigen Tieren kennt.
Die Regenbogenfahne, einst Zeichen der Sichtbarkeit für LGBTQ+-Menschen, ist in Teilen der Gesellschaft zum Reizobjekt geworden. Sie steht nicht mehr einfach für Vielfalt, sie wird gelesen als Ideologie, als Kampfansage, als Bedrohung einer Ordnung, die nie ganz definiert, aber umso heftiger verteidigt wird.
In Kommentarspalten unter Artikeln zu Pride, zu queeren Themen oder einfach nur zu Menschen, die „anders“ sichtbar sind, zeigt sich ein erschreckend homogenes Muster: Abwertung, Herabsetzung, aggressives Augenrollen in Textform. „Mir doch egal, was die im Schlafzimmer machen, aber warum müssen sie es mir zeigen?“. Ein Satz wie ein Klassiker der Abwehrrhetorik. Sichtbarkeit wird zur Zumutung erklärt.
Erstaunlich dabei, dass bei manchen Menschen irgendwelche sexuelle Phantasien die Oberhand gewinnen …
Dabei geht es längst nicht mehr um Toleranz, sondern um Dominanz. Wer definiert, was normal ist? Wer darf sich öffentlich zeigen, ohne angreifbar zu werden? Und wer fühlt sich dadurch bedroht?
Der Regenbogen ist nicht das Problem. Aber er macht sichtbar, was das eigentliche Problem ist: Eine Gesellschaft, in der Sichtbarkeit immer noch Privileg ist. Und für manche offenbar zu viel verlangt.
Triggerkaskaden im Kommentarbereich
Dass es längst nicht mehr um Inhalte geht, zeigt auch ein bizarrer Nebenkriegsschauplatz: Als Pink Floyd 2023 das 50-jährige Jubiläum ihres Albums “Dark Side of the Moon” auf (z.B.) Facebook feierten, reichte das altbekannte Cover mit dem ikonischen Prisma, durch das Licht in Regenbogenfarben gebrochen wird, um Teile der Kommentarspalten in Rage zu versetzen. Ein physikalisches Farbspektrum wurde zur ideologischen Kampfansage umgedeutet. Was jahrzehntelang als geniales Artwork galt, wurde plötzlich als „Woke-Propaganda“ beschimpft.
Absurder geht’s kaum – aber symptomatischer auch nicht.
Es genügt ein einzelnes Wort: „Gender“, „Regenbogen“, „queer“ und schon setzen sie ein, die automatisierten Reaktionen. Kommentare, die klingen wie aus dem Copy-&-Paste-Handbuch für Empörung: „Ich hab nichts gegen Schwule, aber…“, „Früher war das nicht nötig“, „Ich identifiziere mich dann mal als Toaster“ und natürlich das für alle Themen taugliche „Haben wir keine anderen Probleme“.
Es ist nicht das Thema, das provoziert. Es ist die Sichtbarkeit. Das Nicht-mehr-Weggehen, das Nicht-mehr-unsichtbar-Sein. Die Kommentare folgen einem klaren Muster: Erst die Verächtlichmachung („Tuntenparade“, „Clownflagge“), dann das Umkehrspiel („Heteros werden diskriminiert!“), schließlich der verzweifelte Ruf nach „Normalität“.
Aber was ist das eigentlich, dieses „Normal“? Und wer bestimmt darüber?
In Wahrheit zeigt sich hier weniger Ablehnung als Überforderung. Es ist die Ängstlichkeit vor Kontrollverlust, vor Bedeutungsverlust, vor einer Welt, in der man nicht mehr automatisch die Hauptrolle spielt. Die Regenbogenfahne steht nicht für Umerziehung. Sie steht dafür, dass es andere Hauptrollen gibt. Und genau das ist für viele der eigentliche Skandal.
Wenn Sichtbarkeit als Angriff empfunden wird
Sichtbar zu sein, heißt nicht: sich in den Mittelpunkt zu drängen. Es heißt schlicht: nicht mehr am Rand stehen zu müssen. Und genau das trifft auf jene, die sich lange als Mitte der Gesellschaft verstanden haben, wie eine leise Kränkung. Plötzlich sind andere mitgemeint. Plötzlich ist nicht mehr jeder Satz auf sie zugeschnitten. Plötzlich tauchen Farben auf, wo früher nur grau war.
Viele verwechseln das mit Ausschluss. In Wahrheit ist es Erweiterung. Aber wer Sichtbarkeit nur als Kampf um Aufmerksamkeit versteht, wird jede Form von Gleichwertigkeit als Konkurrenz erleben.
Die häufige Reaktion: Abwehr, Ironisierung, Umdeutung. Wer sich zeigt, wird zum Angreifer erklärt. Wer Raum einfordert, wird zur Bedrohung stilisiert.
Dabei geht es nie um weniger für andere. Es geht um mehr für alle.
Doch das erfordert ein Verständnis von Gesellschaft, das viele erst noch lernen müssten: Dass es in einem demokratischen Miteinander nicht um Rangordnung geht, sondern um Augenhöhe. Sichtbarkeit ist kein Angriff. Sie ist Voraussetzung für Teilhabe.
Die dritte Tür – ein Kulturkampf im Kleinen
Kaum ein Symbol wird in diesen Debatten so gern zitiert wie die „dritte Toilettentür“. Sie steht für alles, was angeblich „zu weit geht“. Für angebliche Zwangstoleranz, für inszenierte Identitäten, für den Untergang der „biologischen Wahrheit“. Dabei ist sie vor allem eines: ein Nebenschauplatz. Ein Symbol für ein Unbehagen, das nicht von der Tür kommt, sondern von der Angst, nicht mehr allein im Raum zu sein.
Die dritte Tür ist kein Angriff auf das Bestehende. Sie ist ein Angebot für die, die bisher nicht vorkamen. Doch genau das wird vielen zum Problem. Wer sein Selbstverständnis auf Ausschluss gründet, erlebt jede Form von Erweiterung als Verlust. Und wer sich an der Existenz einer dritten Option schon abarbeitet, will oft gar nicht wissen, wer dahinter steht – sondern nur verhindern, dass sich etwas ändert.
So wird ein bauliches Detail zur symbolischen Bedrohung. Und der Ruf nach nur zwei Türen zur Parole für eine Welt, die nur in Entweder-oder denkt.
Ein demokratischer Stresstest
Dass eine Regenbogenfahne zum Auslöser für Wut, Spott und Ablehnung werden kann, ist kein Zufall. Es ist ein Symptom. Ein Lackmustest für das, was unter der Oberfläche gärte und sich nun offen entlädt. Eine Gesellschaft, die sich als offen versteht, aber mit gelebter Vielfalt oft nur klarkommt, solange sie dezent bleibt.
Wenn in Deutschland im Jahr 2025 das Hissen der Regenbogenfahne vor dem Bundestag zum Pride Month – auf Anweisung von Julia Klöckner – untersagt wird, dann ist das mehr als eine Verwaltungsentscheidung. Es ist eine symbolische Festschreibung dessen, was viele lieber unsichtbar halten wollen: das legitime Recht auf Anerkennung, auf Repräsentanz, auf Würde.
Was als Neutralität daherkommt, ist in Wahrheit oft Verdrängung mit Etikett. Doch das Grundgesetz ist in dieser Frage glasklar: Nicht neutral, sondern parteiisch – für die Unantastbarkeit der Menschenwürde. Nicht für Meinungsfreiheit gegen Minderheiten, sondern für Gleichwertigkeit – ohne Fußnoten.
Verantwortungslose Medien und Plattformen
Und auch die Medien spielen eine Rolle. Viele Online-Redaktionen berichten nicht aus Überzeugung oder journalistischer Verantwortung, sondern fast ausschließlich, um Klicks zu generieren. Queerpolitische Themen, sichtbar gewordene Vielfalt oder streitbare Personen werden nicht begleitet, sondern verwertet. Sie platzieren oft denselben Bericht mehrfach – auch zu unterschiedlichen Tageszeiten –, damit jeder seine Empörung durch die Gassen der Spalten prügeln kann. Mehrmals.
Noch wirksamer wird dieses Spiel durch die Algorithmen der Plattformen. Der Facebook-Algorithmus liebt die Empörung, nicht die Differenzierung. Inhalte, die Reaktionen auslösen – bevorzugt negative –, werden bevorzugt ausgespielt. Das ist kein technischer Unfall. Das ist ein Geschäftsmodell. Die Reaktion der Kommentarspalten ist nicht bloß ein Spiegel, sondern ein Produkt algorithmischer Verstärkung.
Sichtbarkeit wird zuerst erzeugt, dann angegriffen und der Shitstorm einkalkuliert.
So entsteht eine perfide Feedbackschleife: Sichtbarkeit wird zunächst inszeniert, um anschließend das Bashing zu monetarisieren. Das hat nichts mit Aufklärung zu tun, sondern mit Geschäft auf Kosten von Menschen.
Am Ende zahlen nicht die Plattformen den Preis, sondern die Menschen, die sichtbar werden.
Die Reaktionen in Kommentarspalten sind deshalb nicht bloß ärgerlich. Sie sind aufschlussreich. Sie zeigen, wo Aufklärung nötig ist. Wo Bildung fehlt. Wo Angst regiert. Und wo unsere Gesellschaft gefordert ist, sich nicht in den Reflexen zu verlieren, sondern in der Auseinandersetzung Haltung zu zeigen.
Denn Demokratiebildung ist kein Beiwerk, sie ist Voraussetzung. Und oft ist sie in Schulen der einzige Ort, an dem Grundwerte wie Menschenwürde, Gleichheit und Toleranz überhaupt systematisch vermittelt werden. Das Elternhaus allein reicht nicht. Und genau hier bräuchte es nicht weniger, sondern mehr politische Bildung – als Schutz gegen die Verrohung im digitalen Raum.
Dabei ist vieles, was hier wie Ablehnung erscheint, oft nur kulturelle Erschöpfung. Eine Müdigkeit gegenüber Veränderung. Eine Unsicherheit im Umgang mit Pluralität. Aber statt sich dieser Überforderung zu stellen, wird lieber zurückgeschlagen – verbal, symbolisch, digital. Und das nennt sich dann „gesunder Menschenverstand“.
Was wäre, wenn wir stattdessen Resonanz zuließen? Wenn wir Vielfalt nicht als Störung, sondern als Bereicherung begriffen?

Hinterlasse einen Kommentar