Wenn man Gorbatschow erwartet – und Putin bekommt

Das kürzlich veröffentlichte Friedensmanifest der SPD-Friedenskreise ist ein bemerkenswerter Versuch, an die Tradition sozialdemokratischer Entspannungspolitik anzuknüpfen. Es ruft nach Deeskalation, nach Diplomatie, nach gemeinsamer Sicherheit und erinnert an die Prinzipien von Helsinki, an die Weisheit Willy Brandts und an das Abrüstungsabkommen zwischen Reagan und Gorbatschow.

Soweit, so ehrenwert.

Doch so sehr ich die historische Linie würdige, genau hier liegt der fatale Denkfehler: Das Manifest behandelt Russland, als wäre es noch die Sowjetunion der späten 1980er. Als hätte man es mit einem rational agierenden, vertragstreuen Machtstaat zu tun, der Sicherheit durch gegenseitiges Gleichgewicht sucht.

Aber Russland 2025 ist nicht die UdSSR 1987. Und Putin ist nicht Gorbatschow.

Putins Russland agiert nicht defensiv – sondern destruktiv

Die russische Führung strebt keine Sicherheitsbalance an, sondern Machtausweitung. Sie will keine stabile Ordnung, sondern gezielte Destabilisierung.

Sie führt Krieg, nicht nur in der Ukraine, sondern auch gegen Europa, gegen die offenen Gesellschaften, gegen die liberale Demokratie selbst. Nicht nur – wie in der Ukraine der Fall –  mit Raketen oder Drohnen, sondern mit anderen Mitteln: Mit Desinformation. Mit digitalen Angriffen. Mit Polarisierung und gezielter gesellschaftlicher Vergiftung.

Kurz: Ein hybrider Krieg, der nicht an der Grenze haltmacht – sondern in den Kommentarspalten tobt.

Russland beeinflusst schon lange politische Debatten, unterstützt rechtsextreme oder demokratiefeindliche Bewegungen, unterwandert Vertrauen in Institutionen und Medien, bringt spaltende Narrative in Umlauf und macht aus dem Begriff “Frieden” eine semantische Nebelkerze.

Wer das nicht erkennt, wird Teil eines Spiels, dessen Regeln längst nicht mehr auf Verhandlung setzen, sondern auf systemische Zersetzung.

Von Beton zu Brandstiftung: Alte Funktionäre, neue Gefahren

Was viele vergessen oder nie erfahren haben: Putin war Ende der 1980er Jahre als KGB-Offizier in Dresden stationiert. Am 5. Dezember 1989 – die DDR im Umbruch, die Bevölkerung auf der Straße – standen Demonstrierende vor dem KGB-Gebäude. Augenzeugen berichten, dass Putin selbst mit gezogener Pistole vor das Tor trat, um die aufgebrachte Menge abzuhalten. Er soll behauptet haben, sowjetische Soldaten seien zum Schusswechsel bereit. Später relativierte er die Szene und inszenierte sich als Dolmetscher, der schlicht deeskaliert habe.

Doch vieles deutet auf ein anderes Bild hin: Der junge Putin begegnete zivilem Protest nicht mit Verständnis, sondern mit Einschüchterung. Mit dem Reflex, Macht mit Waffe abzusichern.

Ein weiterer fundamentaler Unterschied: Während die Führung der Sowjetunion – trotz aller ideologischen Verhärtung – zumeist nicht gezielt gegen Zivilisten vorging, lässt Putin heute gezielt Krankenhäuser, Schulen, zivile Infrastruktur und selbst Kinder ins Visier nehmen. Die systematische Tötung von Unschuldigen ist keine tragische Nebenwirkung, sondern wird zur Methode.

Das ist keine Kriegsstrategie im klassischen Sinn mehr, sondern eine kalkulierte Form staatlich verübter Barbarei. Und sie markiert einen moralischen Tiefpunkt, der eine Gleichsetzung mit früheren autoritären Regimen verbietet.

Die Führung der Sowjetunion bestand aus starren, aber berechenbaren Funktionären. Beton in den Köpfen, ja – aber mit kalkulierbarer Logik. Sie wollten Einfluss, aber sie fürchteten das Chaos. Verträge wurden zwar taktisch genutzt, aber sie hatten Gewicht. Ein Wort konnte etwas gelten, ein Abkommen einen Krieg verhindern.

Putin hingegen repräsentiert einen Typus von Herrscher, der nicht auf Stabilität, sondern auf Zerfall setzt. Nicht nur im Ausland, sondern im Innern. Sein Regime lebt von Angst, Lüge, Gewalt und Korruption.

Der Unterschied ist fundamental:

Früher hatte man es mit verstockten Betonfüglern zu tun – heute mit einem menschenverachtenden Autokraten. Einem, der sein Wort nur dann hält, wenn es ihm nutzt – und ansonsten gezielt bricht, auch zum Preis des Leids der eigenen Bevölkerung.

Friedenspolitik, die beide gleich behandelt, verfehlt die Realität der Gegenwart.

Frieden ist kein Zustand der Naivität

Ein zentraler blinder Fleck des Manifests bleibt die Frage: Was meinen wir eigentlich, wenn wir „Frieden“ sagen? Meinen wir bloß eine Waffenruhe – also das Schweigen der Waffen – oder meinen wir auch die Wiederherstellung der territorialen Integrität eines angegriffenen Landes?

Diese Unterscheidung ist nicht akademisch. Sie entscheidet darüber, ob wir bereit sind, Frieden als bloße Ruhe über Unrecht zu akzeptieren – oder ob wir ihn als gerechte Ordnung verstehen, die auf Völkerrecht, Menschenwürde und Selbstbestimmung beruht.

Frieden ist ein menschliches Grundbedürfnis und zugleich ein strategisch verwundbarer Begriff. Wer ihn benutzt, ohne die realen Bedingungen seiner Gefährdung zu benennen, macht ihn zur Floskel.

Die Ukraine wird in vielen Debatten zur reinen Projektionsfläche: Man spricht über sie, aber selten mit ihr, noch seltener aus ihrer Perspektive. Dabei verteidigt sie derzeit nicht nur ihre eigene territoriale Integrität, sondern auch das Fundament einer regelbasierten Friedensordnung, von der wir in Europa selbst profitieren.

Finanzielle und militärische Unterstützung der Ukraine ist daher keine bloße Solidaritätsgeste, sondern ein strategischer Beitrag zur Erhaltung unseres eigenen Friedens. Wer das unterschlägt, riskiert nicht nur die Ukraine zu verlieren, sondern das, was ihr Verlust symbolisch freilegt: die Erosion europäischer Sicherheitsgarantien unter dem Druck autoritärer Gewalt.

Das Manifest will Verhandlungen – gut. Aber es übersieht, es gab sie schon und es gibt sie. Und es übersieht, dass Verhandlungen einen Mindestkonsens über die Regeln des Spiels voraussetzen. Und genau diesen Konsens hat Russland längst aufgekündigt. Verträge werden gebrochen, Menschenrechte systematisch missachtet, militärische Drohungen in die Außenkommunikation integriert.

Die Vorstellung, man könne mit vertrauensbildenden Maßnahmen und Sicherheitsarchitekturen an eine europäische Friedensordnung anknüpfen, klingt humanistisch, aber sie ist gefährlich anachronistisch, solange sie nicht die reale Bedrohung erkennt:
Russland führt einen Angriff auf das westliche Gesellschaftsmodell – nicht in Form von Panzern auf deutschem Boden, aber als permanenten psychopolitischen Nadelstich, als Unterwanderung, als Spaltung.

Falsche Äquidistanz ist kein Beitrag zur Sicherheit

Die Vorstellung, Rüstung sei allein ein Ausdruck von Eskalation, greift zu kurz. Die Wahrheit ist: Europa befindet sich nicht in einem Rüstungswettlauf, sondern eher in einer Phase notwendiger Gleichrüstung.

Die Kriege der Gegenwart werden nicht mehr nur mit Panzern geführt, so sehr das in der Ukraine anfangs den Anschein hatte. Sie werden mit modernster Technologie geführt: mit KI-gesteuerten Drohnenschwärmen, Satelliten- und Aufklärungssystemen, Cyberwaffen, Hyperschallraketen, elektronischer Kriegsführung und digitaler Kommunikationstäuschung.

Und genau auf diesen Feldern hinkt Europa dramatisch hinterher. Die europäische Verteidigungsfähigkeit ist längst nicht auf dem Stand, der nötig wäre, um sich autark zu behaupten. Selbst der nukleare Schutzschirm, den bisher die USA unter NATO-Garantie gewährten, wird zunehmend fragiler. Eine sicherheits- und friedenspolitische Strategie, die diese Realität ignoriert, wird zur Einladung für aggressive Autokratien.

Sicherheit ist teuer, ja. Aber die Alternative dazu ist ungleich teurer: politische Erpressbarkeit, militärische Ohnmacht und die Delegitimierung gemeinsamer europäischer Verantwortung.

Ich sehe im Manifest einen gut gemeinten Reflex – den Wunsch, nicht erneut in eine Rüstungsspirale zu geraten. Doch zwischen kritischer Selbstreflexion und falscher Äquidistanz liegt eine gefährliche Grauzone.

Wenn der Westen für vergangene Fehler (Irakkrieg, Serbien, Nichtumsetzung Minsk) zur Verantwortung gezogen wird, ist das notwendig. Aber wenn diese Kritik zur Relativierung aktueller russischer Kriegsverbrechen führt, wird aus reflektierter Balance moralischer Nebel.

Das Manifest warnt zu Recht vor Hochrüstung und nationalistischer Alarmrhetorik. Aber es ignoriert, dass wir längst angegriffen werden, nicht mit Bomben, sondern mit Lügen, nicht mit Soldaten, sondern mit Spaltern. Mit Trollarmeen, die mit modernsten Botnetzwerken ausgestattet sind.

Der Westen spricht nicht mehr mit einer Stimme

Ein weiterer zentraler Unterschied zur Zeit des Kalten Krieges ist das schwindende Vertrauen in eine einheitliche westliche Stimme.

Früher sprachen Europa und die USA weitgehend synchron in sicherheitspolitischen Fragen. Heute erleben wir eine zunehmende Fragmentierung. Donald Trump im Amt des US-Präsidenten, flirtet offen mit autoritären Herrschern: mit Wladimir Putin, mit Xi Jinping, mit Kim Jong-un, mit Viktor Orbán – und nicht zuletzt mit der Idee, NATO-Bündnispartner im Ernstfall allein zu lassen.

Was bedeutet Friedenspolitik unter diesen Bedingungen? Wer heute auf eine multilaterale Sicherheitsarchitektur setzt, muss auch die wachsende Instabilität im Inneren des Westens mitdenken. Diplomatie braucht Partner, aber auch Verlass. Und diese Verlassposition bröckelt.

Fazit: Der Frieden beginnt mit Klarheit

Friedenspolitik muss heute mehr können als Diplomatie fordern. Sie muss den Gegner als solchen benennen, nicht verteufeln, aber auch nicht romantisieren. Sie muss Sicherheit neu denken – nicht nur militärisch, sondern auch gesellschaftlich, digital, psychologisch.

Und sie muss die Lehren von damals mit dem Blick von heute verbinden.

Der Ruf nach Frieden ist ehrenwert, doch wer dabei noch immer auf Gorbatschow hofft, während Putin längst TikTok bombardiert, sieht nicht, wie sich die Welt verändert hat.

Autokratien wie China, Iran und Nordkorea führen längst ihren digitalen Krieg und im Innern wirken AfD-nahe Netzwerke und Medienkanäle aktiv mit an der Zerfaserung unserer Demokratie.

Wer in dieser Lage noch vom alten Dialog träumt, verhandelt nicht über Frieden, er spricht die Zeilen eines Drehbuchs, das längst von anderen geschrieben wurde.

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