Über die kognitive Schizophrenie unseres Gesundheitssystems

Vorwort

Ich hatte ein Dilemma, denn eigentlich wollte ich schreiben, dass ich nicht Nutzer:innen angreifen möchte, die Globulis usw gebrauchen. Es ist ihre Sache. Es ist aber in diesem Kontext nicht ganz ihre Sache.

Ich respektiere, dass viele hoffen, glauben, heilen – auf ihre Weise. Und ich finde es übergriffig, ihnen das pauschal abzusprechen. Aber der Punkt ist: Ich finanziere diese Hoffnungen mit. Über meine Beiträge. Über mein Einverständnis. Und damit wird aus dem persönlichen Glauben keine private Angelegenheit.

Mich stört auch nicht der Glaube. Ich glaube auch. Zum Beispiel, dass viele diesen Text nicht zu Ende lesen werden. Aber dafür verlange ich keine Subventionen.

Was mich stört, ist die staatliche Subvention von Unwirksamkeit. Die strukturelle Verwechslung von Trost mit Therapie. Die Tatsache, dass ich mich dafür rechtfertigen muss, an Wissenschaft zu glauben – und nicht an das gute Gefühl.

Die im Artikel angeführte Stoßwellentherapie ist auch nur ein Beispiel. Es gibt viele andere Therapien, die zwar effizient und nachweislich wirksam oder hilfreich sind, aber nicht als Kassenleistung der GKV erhältlich sind.

Es gibt z. B. multimodale Schmerzprogramme, langfristige Psychotherapie bei komplexen Traumata oder hochwertige Hörgeräte. Auch präventive Ernährungsberatung und erweiterte Parodontitis-Nachsorge werden oft nicht übernommen – obwohl ihr Nutzen gut belegt ist. Was wirkt, muss man oft selbst zahlen.

Was mir gerade Aua macht

Ich bin unterm Dach verkalkt. 

Nein, in der Schulter. Unter dem Schulterdach hat sich Kalk eingelagert.

Tendinosis calcarea“ nennt sich dieser Mist.

An sich nicht schlimm, aber sehr schmerzhaft bei bestimmten Bewegungen. Vor allem nachts. In der Ruhephase kommt der Schmerz und raubt den Schlaf.

Normalerweise werden diese Ablagerungen irgendwann vom Körper abgebaut. Zeitraum: mehrere Monate.

OP droht nur in bestimmten Fällen. Therapiert wird daher meist konventionell: Physiotherapie, Schmerzmittel, eventuell Cortison (als Spritze oder Einnahme)

Das alles hat Nebenwirkungen – und in der Schmerzzeit ist kaum etwas möglich. Man ist eingeschränkt. Die Einschränkungen verschärfen andere Probleme, die mit Sport oder Bewegung gut im Griff sind.

Wenn weitere Probleme hinzukommen, wie z. B. gealterte Halswirbel, kann das über den Nackenbereich zusätzlich triggern. Dann geht fast nichts mehr, auch keine Physiotherapie und man will den Kram einfach nur noch loswerden.

Bleibt eine Linderung der Beschwerden aus, kann eine extrakorporale Stoßwellentherapie (ESWT) zum Einsatz kommen. Dabei sollen die Kalkdepots mithilfe hochenergetischer Ultraschallwellen zertrümmert bzw “aufgerissen” werden.

Zudem fördern die Ultraschallwellen die Durchblutung in der Region, sodass die Kalkablagerungen besser abgebaut werden können. Die Stoßwelle regt zudem durch Freisetzung von Wachstums- und entzündungshemmenden Faktoren einen Selbstheilungsprozess in den Zellen an. Häufig reichen drei zehnminütige Sitzungen in einem Abstand von je einer Woche, um die Beschwerden zu verbessern. Es verschafft Linderung und somit wieder Bewegung. Die Therapie ist meist schmerz- und nebenwirkungsfrei.

Die Behandlungsart und Dauer ist sogar ziemlich easy.

Vielleicht zu easy…

Stoßwellentherapie: Kassenleistung? Fehlanzeige.

Bei Kalkschulter wird die Stoßwellentherapie von den Krankenkassen (bewusst nicht „Gesundheitskassen“) nicht übernommen.

Die helfende Stoßwellentherapie wird somit in den Bereich der sogenannten “IGeLeistungen” verdonnert.

Diese Leistungen sind Angebote, die Ärzte kostenpflichtig Patienten zur Verfügung stellen können. Und sie stehen in ihrer Gesamtheit nicht in gutem Ruf, weil vieles davon nur “Sondereinnahmen für Arztpraxen“ sind. Selbst die GKV und der Medizinische Dienst (MD) veröffentlichen regelmäßig Berichte und Bewertungen und raten bei vielen Leistungen zur Vorsicht.

Sie betonen: Viele IGeL seien medizinisch fragwürdig oder nicht evidenzbasiert. Fordern kritische Aufklärung der Patient*innen

Und genau das tun wir jetzt:

Absurde Prioritäten im Gesundheitswesen

Die gesetzlichen Krankenkassen geben jährlich rund 21 Millionen Euro für Homöopathie aus – für Präparate ohne Wirkstoff, deren Wirksamkeit wissenschaftlich widerlegt ist.

Bei der akuten Kalkschulter betrifft jährlich 80 000 bis 150 000 Menschen. Die Behandlungskosten der Stoßwellentherapie würden bei etwa 240 Euro pro Fall liegen. Man geht von 3 Sitzungen aus.

Die Zahlen sind zwar damit nicht konkret, aber das ist auch nicht das Problem.

Das aufgeführte Beispiel „Kalkschulter“ führt oft zu monatelanger Einschränkung der Arbeitsfähigkeit, Schmerzmittelgebrauch, Physiotherapie und Krankmeldungen. Der volkswirtschaftliche Schaden durch Produktionsausfälle, Arztbesuche, Chronifizierungen und Arbeitsunfähigkeit dürfte im dreistelligen Millionenbereich liegen.

Wenn man sich jetzt noch die aktuelle Debatte über Arbeitszeitverlängerung vor Augen führt, wirkt das besonders schräg.

Eine Realsatire

Sie entsteht nicht durch Verschwörung, sondern durch Bürokratie, Gewohnheit und politisches Kalkül: In einem der teuersten und technisch besten Gesundheitssysteme der Welt wird eine wissenschaftlich begründete Therapie oder sinnvolle Vorsorge und Ersatzleistungen zur Selbstzahlerleistungen erklärt, während die Krankenkassen bereitwillig Zuckerkügelchen mit eingebildeter Erinnerung erstatten – Homöopathie, Placebo, Esoterik – die bis zur braunen Esoterik reicht.

Ein auf wissenschaftlicher Evidenz basierendes System untergräbt seine eigene Fundierung, indem es Pseudomedizin nicht nur duldet, sondern finanziell stützt.

Nocebo-Business: Wie aus Zweifel Profit wird

Die alternative Pseudomedizin und zugehörige Eso-Szene funktioniert nach einem perfiden Kreislauf: Zuerst wird Misstrauen in die „Schulmedizin“ gesät. Dann wird Angst verstärkt (Nocebo-Effekt). Und schließlich wird eine Placebo-Lösung angeboten, die – paradoxerweise – genau das Leiden behandelt, das durch das System aus Angst und Entfremdung erzeugt wurde.

Man erkennt die ökonomische Brillanz: Es braucht keine Wirkung, nur ein Versprechen. Der Patient wird nicht geheilt, sondern gehalten – im System der Scheinwirksamkeit.

Nocebo? Das Gegenteil von Placebo

Deswegen sollte man Beipackzettel vielleicht nicht lesen. Der Effekt beschreibt menschliche Eigenschaften: Er wirkt nicht durch Hoffnung, sondern durch Angst.

Dieser Effekt ist – im Gegensatz zum Placebo – kaum bekannt, dient aber der Eso-Szene als solide Basis für das Diskreditieren von „Schulmedizin“ (Kampfbegriff)

Wikipedia-Link zum Nocebo-Effekt

Es sollte deutlich werden, wie übel dieser Effekt wirken kann. Und es sollte deutlich werden, wie wir Menschen beeinflussbar sind.

Selbstheilung – Missbraucht von der Eso-Szene

Globuli sind das Symbol einer Dienstleistung, deren Erfolg allein in der Beziehung zwischen Anbieter und Gläubigem liegt. Dass sich Eso-Anbieter dabei in ihren Behandlungsstrategien oft widersprechen, stört nicht. Denn Homöopathie und ähnlicher Hokuspokus wirken bekanntermaßen nicht über den Placeboeffekt hinaus.

Wäre ich Anbieter, würde ich Kügelchen weihen, die die Kalkschulter in höchstens 6 Monaten heilen. Das würde in vielen Fällen gut funktionieren …

Nur zur Erinnerung. Der Körper baut die Ablagerungen oftmals selbst ab. Heilt sich also selbst.

Viele akute Beschwerden – etwa Erkältungen, Entzündungen, Magen-Darm-Infekte oder kleinere Verletzungen – heilen ohne spezifische medizinische Maßnahmen. Die Medizin spricht dann von selbstlimitierenden Verläufen.

Studien deuten darauf hin, dass ein erheblicher Teil hausärztlicher Konsultationen solche Fälle betrifft.

Die Schwäche des Systems erzeugt die Sehnsucht nach der Esoterik mit.

Doch das bedeutet nicht, dass medizinische Versorgung überflüssig wäre – im Gegenteil: Erst ärztliche Erfahrung ermöglicht die Unterscheidung zwischen harmlosen und behandlungsbedürftigen Verläufen.

Wer daraus ableitet, der Körper heile alles von selbst, missversteht Statistik als Therapieanleitung.

Besonders perfide wird es, wenn dieser Gedanke zur Legitimation von Pseudomedizin dient: Aus dem natürlichen Heilungsverlauf wird dann scheinbar ein Erfolg von Globuli, Energiearbeit oder Detox-Kuren – obwohl nichts davon über den Placeboeffekt hinaus wirkt.

Es gibt allerdings noch andere Effekte, die scheinbar dem gehuldigten Objekt eine Wirkung zuschreiben, allerdings rein menschlich sind.

Die Magie der Selbsttäuschung – energetisch aufgeladen

Manche Menschen tragen Armbänder, die angeblich den Energiefluss im Körper harmonisieren. Andere kleben sich Magnetpflaster auf die Gelenke oder schlafen auf Matten, die Schumannwellen abstrahlen. Und siehe da: Plötzlich können sie sich wieder besser bewegen, trotz Arthrose, Rheuma oder jahrzehntelanger Beschwerden.

Was ist passiert? Ein Wunder?

Nein – ein Klassiker der menschlichen Psychophysiologie. Glaube kann viel bewegen. Besonders dann, wenn Hoffnung, Ritual und Gruppenzugehörigkeit zusammenwirken. Der Körper gehorcht dem inneren Kommando: „Du hast jetzt etwas, das dir hilft.“ Und für eine Weile funktioniert das – zumindest im Kopf. Bis der Effekt wieder nachlässt.

Besonders eindrucksvoll sind Produkte, die dem Nutzer selbst eine Handlung abverlangen – ein Armband anlegen, eine Matte ausrollen, ein Ritual durchführen. Sie aktivieren den sogenannten response expectancy effect: Der Körper stellt sich unbewusst auf eine Besserung ein, weil er eine Veränderung erwartet. Dieser Effekt ist nachgewiesen und zeigt, wie sehr unsere physiologischen Reaktionen an Erwartungen gekoppelt sind.

Wenn sich jemand aufrichtet, weil ein Balance-Armband angeblich stabilisiert, liegt das nicht am Produkt, sondern an einem komplexen Zusammenspiel aus Glaube, Fokussierung, sozialem Kontext und Bewegungsdynamik. Für einen Moment funktioniert das – aber eben im Kopf, nicht im Material.

Und die Krankenkassen? Sie zahlen. Wir zahlen.

Homöopathie ist keine Regelleistung, aber eine Satzungsleistung. Krankenkassen dürfen sie erstatten – und tun es, um marketingwirksam als ganzheitlich oder patientennah zu erscheinen. Die Kosten? Vermeintlich gering. Die Wirkung? Psychologisch. Die medizinische Rechtfertigung? Keine.

Die Stoßwellentherapie hingegen – evidenzbasiert wirksam bei Kalkschulter, Tennisellenbogen, Fersensporn – wird nur in engen Ausnahmefällen übernommen. Und auch nur, wenn zuvor mindestens sechs Monate erfolglos therapiert wurde. 

Wer Schmerzen hat, aber wissenschaftlich fundierte Hilfe will, muss zahlen. Wer an energetisiertes Wasser glaubt, bekommt die Rechnung übernommen.

Vielleicht sollte man gegenüber Krankenkassen erwähnen, dass das bei der ESWT aufgetragene Gleitgel energetisch mit linksdrehender Wirkung auf zelluläre Widerstände informiert und mit Globuli aus gemörserten Piezo-Kristallen versetzt wurde.

Kosten: 83Euro pro Sitzung

Ein System in Placebo-Laune

Während in Reha-Zentren und orthopädischen Praxen um jede Minute Physiotherapie gestritten wird, während Ärzte dokumentieren müssen, ob ein Patient wirklich fünf Minuten Gesprächszeit „gebraucht“ hat – wird gleichzeitig staatlich finanziert, was medizinisch keinen Bestand hat. 

Wenngleich man schon verstehen kann, wenn Patienten sich dem Bereich der Esoterik quasi hingeben, weil sie sich verstanden fühlen. Weil ihnen damit auch Zeit entgegengebracht wird. Ein Umstand, der bei dem Kostendruck des Gesundheitssystem komplett vor die Hunde geht. Und natürlich gibts im Bereich der evidenzbasierten Hypermedizin auch deutliche Schieflagen. Fehlbehandlungen, Behandlungen wegen Profitstreben usw.

Aber das sind keine Gründe, um die von Heilpraktiker:innen verwendete Pseudomedizinprodukte in den Bereich der evidenzbasierten Medizin zu heben.

Das Perfide ist nicht die bloße Toleranz gegenüber Irrationalem. Es ist die institutionelle Unterstützung. Der Rückzug in die Esoterik wird so nicht bekämpft – er wird belohnt. Und am Ende leidet genau das, was verteidigt werden sollte: die Integrität der wissenschaftlichen Medizin.

Fazit:

Wer Globuli zahlt, muss sich über Impfmüdigkeit und Wissenschaftsverweigerung nicht wundern

Solidarität mit Humbug

Es geht nicht darum, Menschen ihre Hoffnungen zu nehmen. Oder gar Globulis zu verbieten. Es geht darum, staatliche Strukturen nicht zur Bühne für pseudowissenschaftliche Bühnenmagie zu machen. Wer medizinische Evidenz verlangt, darf sich nicht gleichzeitig dem Irrationalen anbiedern.

Wer Globulis, wissenschaftlich bewiesene Nichtwirkung und Placebo möchte, soll das daher selbst zahlen (können).

Es nützt auch nichts, wenn man im Rahmen der freien Krankenwahl eine KK sucht, die Globulis nicht zahlt. Alle GKV-Mitglieder zahlen ihre Beiträge in einen gemeinsamen Topf, den Gesundheitsfonds. Aus diesem Fonds erhalten die einzelnen Krankenkassen dann Zuweisungen für ihre Versicherten. 

Mit diesem Geld finanzieren die Kassen die Regelleistungen, die für alle Kassen identisch sind und vom Gemeinsamen Bundesausschuss festgelegt werden.

Einige Kassen nutzen einen Teil dieses Geldes (oder ihrer Rücklagen), um ihren Mitgliedern freiwillige Satzungsleistungen (wie Homöopathie, Osteopathie, professionelle Zahnreinigung etc.) anzubieten, um sich im Wettbewerb zu positionieren.

Auch wenn eine Krankenkasse keine Homöopathie bezahlt, fließt Ihr Beitrag in das Gesamtsystem, das es anderen Kassen ermöglicht, diese Leistungen anzubieten.

Ein Milliardenmarkt der Illusion

Die Esoterikbranche ist längst kein Nischentheater mehr, sondern ein Milliardenmarkt mit professionellen Strukturen. Im Prinzip alsi genau das, was man der Pharmaindustrie mit  “Pharmalobby” oder “Pharmamafia” vorwirft.

In Deutschland fließen jährlich geschätzte 15 bis 20 Milliarden Euro in homöopathische Mittel, energetisierte Schmucksteine, Bachblüten, Aurareinigungen, Coaching-Angebote und anderes pseudowissenschaftliches Heilsversprechen. Die Homöopathie allein setzt jährlich rund 600 Millionen Euro um – mit Zuckerkügelchen, deren Wirksamkeit über den Placeboeffekt hinaus widerlegt ist.

Gleichzeitig wird der Glaube an Heilsteine und Quantenarmbänder zur Wohlfühlalternative erklärt – oft von denselben Menschen, die der „Pharmalobby“ misstrauen, aber bei der Eso-Messe das Doppelte für einen Rosenquarz zahlen. Es geht nicht um Glauben oder Hoffnung. Es geht um ein Geschäftsmodell, das vom Zweifel lebt – und von der Sehnsucht nach Sinn. Dass dieser Sinn Milliarden generiert, wird selten thematisiert.

Genauso wenig, wie die Schatten aus der Vergangenheit:

Braune Esoterik – Wenn das Unheil durch den Hintereingang kommt

Manche werden diese beschriebene Verbindung pauschal zurückweisen. Kann man machen, aber es lohnt ein Blick darauf.

Wenn die GKV Esoterik finanziert, finanzieren sie nicht nur Placebos – sie legitimieren unter Umständen auch ein Denken, das historisch mit autoritären und völkischen Ideologien flirtete. Schon im Nationalsozialismus wurden natürliche Heilweisen ideologisch aufgeladen – als arisches Gegennarrativ zur vermeintlich „entfremdeten Schulmedizin“.

Die Semantik: Reinheit, Natürlichkeit, ganzheitliche Heilung. Der Subtext: Abwehr gegen Rationalität, gegen Fremdes, gegen Wissenschaft.

Die Muster sind da: Heilung wird zur Glaubensfrage, Impfungen zur Gewissensprüfung, Fakten zur Bedrohung

Wer heute mit Globuli wirbt, speist aus einer Quelle, die auch völkisch trübte..

Was wie harmloses Zuckerwerk aussieht, wird im Schatten zur Projektionsfläche für Verschwörungsmythen – und damit gefährlich.

Ein Gesundheitssystem, das irrationale Heilsversprechen strukturell stützt, sollte wissen, mit welchen Schatten es paktiert.

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