Bürgergeld als moralisches Ablenkmanöver

Triggerwarnung: der Text kommt mit klarer Haltung und faktenorientierter Meinung.

Wer Bürgergeld kritisiert, sollte vorher Bürgerwürde verstehen. Nicht der Sozialstaat ist das Problem, sondern ein System, das Menschen trotz Arbeit arm sein lässt.

Statt über systemische Steuerhinterziehung in Milliardenhöhe, Cum-Ex-Betrug, politische Verantwortungslosigkeit oder ökologisches Zündeln zu sprechen, wird in politischen Debatten, Talkshows, Social-Media und an Stammtischen eine Neiddebatte geschürt.

Es ist kein Zufall, dass Populismus boomt. Er funktioniert wie ein Panik-Kondom fürs Denken: alles fühlt sich irgendwie stark und einfach an. Er schützt dennoch nicht vor Realität. Es wird auch in der eigenen Realität nichts gerechter, wenn man Bedürftigen etwas wegnimmt.

Tritt nach unten – Gerechtigkeit fürs Ego

“Die sollen erstmal die zur Arbeit schicken, die Daheim faul rumliegen”

Mit präziser Verlässlichkeit kommt das. Irgendwer schmeißt das irgendwann immer in Runde. In Verbindung gebracht mit dem inszenierten Gefühl der Ungerechtigkeit.

Gefühl vs. Realität – Wer sich da betrogen fühlt

Wie das mit Gefühlen und daraus zementierten Meinungen so ist, stimmen sie oftmals nicht mit der Realität überein. Interessant ist es, wenn das Gefühl der Ungerechtigkeit besonders bei denen stark ist, die relativ gut versorgt sind. Natürlich versorgt mit durchaus eigener Arbeit und dem daraus generierten Wohlstand.

Aber sobald das mit eigener Arbeit möglich geworden ist, darf man sich auch die Frage stellen, warum das so ist. Ob wirklich alles auf eigener Leistung beruht. Oder ob da nicht auch Lebensumstände eine Rolle spielten. Sei es durch Erbe oder sonstige strukturelle Vorteile.

Strukturelle Ungerechtigkeit – Vom Erbe zur Erwartung

Stellt man diese Fragen, folgt eine Welle der Entrüstung. Es kommt meist die lautstarke Klage, dass die Eltern sich dafür abgerackert haben und man selbst quasi schon im Babyalter aktiv mitarbeiten musste.

Mit Erbschaftsteuer und “Eigentum verpflichtet” darf man sowieso nicht argumentieren, denn dadurch wird die “Nicht für den Scheiß-Staat”-Bombe gezündet. Und das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen, denn der “Scheiß-Staat” schützt Vermögen. Begünstigt es. Sorgt normalerweise mit Steuergeld oder Abgaben dafür, dass es sicher bleibt.

Warum eigentlich diese egozentrische  Entrüstung?

Kann es nicht auch so sein, dass man Glück hatte, in einem Umfeld aufzuwachsen, das generell durch Besitz der Vorfahren absicherte und für die eigene Zukunft massive positive Effekte hatte? Diffamieren diese Fragen dieses Umfeld und den eigenen Leistungsanteil am Wohlstand?

Nein!

Die Fragen sollen eigentlich nur die Blicke öffnen, dass es auch andere – vielleicht ungünstigere – Lebenswirklichkeiten gibt, als nur die eigenen. Nicht alle hatten diese Vorteile in Form von “beruhigender Absicherung”. Nicht alle hatten Glück, in den Genuss von Bildung zu kommen, welcher günstigere Lebensrealitäten bieten könnte.

Mindestlohn: Arbeiten ohne Ankommen

Eine harte Realität ist damit auch die der arbeitenden Menschen, die mit Nichts in diese Welt kamen und höchstwahrscheinlich nichts hinterlassen können. Diese vorgegebene Spur zu wechseln, ist aus eigener Anstrengung oftmals gar nicht so einfach.

Und so wie Wohlhabende gerne den Spruch aus ihrem Lebkuchenherz zitieren, dass sich eigene Leistung lohnen würde und weniger Steuern und Abgaben auf ihre Einkünfte und Besitz fordern, so dürfen auch Geringverdiener verlangen, dass sich ihre Leistungen lohnen sollen.

Genau das tut es aber in ihrem Fall oftmals nicht.

Es gibt viele Menschen, die tagtäglich Vollzeit arbeiten und dennoch nie in den Bereich eines gesicherten Wohlstands gelangen. Die Gründe dafür sind vielfältig. Ein wesentlicher liegt im System selbst: Es verlangt ihnen Stabilität ab, für ein System, welches in erster Linie den gesicherten Wohlstand anderer absichert.

Und wehe, dieser Mindestlohn steigt, dann wird plötzlich von Preissteigerungen gesprochen. Alles wird dann angeblich teurer. Besonders das Filetsteak im Restaurant …

Ach wirklich?

Die Preise steigen also, weil Menschen, die den Laden am Laufen halten, ein paar Euro mehr verdienen sollen, damit sie überhaupt davon leben können?

Die Wahrheit ist: Die Preise steigen für alle, aber besonders davon betroffen sind jene, deren Löhne ohnehin kaum reichen. Es geht hierbei nicht um Essen und ein Dach überm Kopf, sondern auch um  soziale Teilhabe, Bildung und ein halbwegs würdiges Leben. Und für vielleicht bessere Absicherung im Alter, die dann lautstark von politisch Verantwortungslosen eingefordert wird.

Allein 2023 mussten rund 800.000 Menschen trotz Vollzeitjob ihr Einkommen aufstocken. Nicht, weil sie zu wenig leisten, sondern weil ihnen zu wenig gezahlt wird. Speziell diese Leute müsste man ehren, wenn man es ehrlich meinen würde. Aber keiner tuts, es wird ohne Kommentar hingenommen.

Aber schauen wir uns die Bürgergeldempfänger insgesamt genauer an …

Zahlen und Fakten

Die Frage, wie viele Bürgergeldempfänger in Deutschland arbeitsfähig sind, aber keiner Erwerbstätigkeit nachgehen, lässt sich differenziert beantworten.

Aktuelle Zahlen (Stand: 2023)

Gesamtzahl der Bürgergeldempfänger: Rund 5,5 Millionen Menschen bezogen im Jahr 2023 Bürgergeld.

Erwerbsfähige Leistungsberechtigte: Etwa 4 Millionen dieser Personen gelten als erwerbsfähig.

Arbeitslos und dem Arbeitsmarkt verfügbar: Ungefähr 1,6 Millionen erwerbsfähige Bürgergeldempfänger standen dem Arbeitsmarkt zur Verfügung und waren arbeitslos.

Erwerbstätige Aufstocker: Rund 800.000 Personen waren erwerbstätig, ihr Einkommen reichte jedoch nicht aus, um den Lebensunterhalt zu sichern, weshalb sie ergänzend Bürgergeld bezogen.

Nicht dem Arbeitsmarkt verfügbar: Weitere 1,6 Millionen erwerbsfähige Bürgergeldempfänger standen dem Arbeitsmarkt nicht oder nur eingeschränkt zur Verfügung, beispielsweise aufgrund von Ausbildung, Studium, Kindererziehung, Pflege von Angehörigen oder gesundheitlichen Einschränkungen.

Ukraine – ein besonderes Kapitel

Bis Ende 2024 bezogen rund 717.000 ukrainische Geflüchtete in Deutschland Bürgergeld, davon etwa 505.000 erwerbsfähige Personen und 212.000 nicht erwerbsfähige, meist Kinder. Bei insgesamt etwa 5,5 Millionen Bürgergeldbezieher in Deutschland entsprach dies einem Anteil von etwa 13 %.

Allerdings gab es ab dem 1. April 2025 eine Änderung: Neu eingereiste ukrainische Geflüchtete erhalten nun Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz statt Bürgergeld.

Eine Kritik wäre anzubringen wegen der mangelhaften Integration in den Arbeitsmarkt. Auch hier lohnt es sich genauer hinzuschauen:

Trotz hoher Motivation sind nur etwa ein Viertel der ukrainischen Geflüchteten in Deutschland berufstätig. Gründe sind vor allem fehlende Deutschkenntnisse, langwierige Anerkennungsverfahren für Abschlüsse, mangelnde Kinderbetreuung – insbesondere für alleinreisende Frauen mit Kindern – sowie psychische Belastungen und unsichere Aufenthaltsbedingungen. Hinzu kommen bürokratische Hürden und ein Arbeitsmarkt, der wenig flexibel auf diese Gruppe reagiert. Die niedrige Erwerbsquote ist also kein Zeichen von Arbeitsunwilligkeit, sondern Ausdruck unserer struktureller Versäumnisse.

„Totalverweigerer“ – eine kleine Minderheit

Der medial wirksame Begriff „Totalverweigerer“ bezieht sich auf Personen, die trotz Arbeitsfähigkeit und Verfügbarkeit wiederholt zumutbare Arbeitsangebote oder Maßnahmen ablehnen.  Im Zeitraum von Januar bis November 2023 wurden in etwa 13.838 Fällen Leistungen gemindert, weil Betroffene eine Arbeit, Ausbildung oder Maßnahme nicht aufnehmen oder fortsetzen wollten.

Dies entspricht etwa 0,86 % der erwerbsfähigen Bürgergeldempfänger.

Es ist hierbei wichtig, die Komplexität der individuellen Lebenssituationen zu berücksichtigen und nicht pauschal von Arbeitsunwilligkeit auszugehen.

Fazit

Die Mehrheit der erwerbsfähigen Bürgergeldempfänger ist entweder aktiv auf Arbeitssuche, in Maßnahmen zur Integration in den Arbeitsmarkt eingebunden oder aufgrund von persönlichen Umständen vorübergehend nicht verfügbar.

Der Anteil derjenigen, die trotz Arbeitsfähigkeit und Verfügbarkeit keine Beschäftigung aufnehmen und wiederholt Angebote ablehnen, ist mit unter 1 % sehr gering.

Diese Zahlen zeigen nicht nur, wie viele betroffen sind, sie zeigen auch, wie wenig wir als Gesellschaft bereit sind, die Realität auszuhalten.

Die Realität unserer eigenen Blicke

Warum wird so viel Aufmerksamkeit auf eine winzige Minderheit gelenkt?

1. Symbolpolitik statt Strukturkritik

Diese 1 % sind greifbar. Sie stehen symbolisch für ein Problem, das viele „gefühlt“ wahrnehmen wollen: den „faulen Sozialstaat“. Anstatt sich mit strukturellen Problemen wie Niedriglohn, Wohnungsnot oder Bildungsarmut auseinanderzusetzen, wird an einem grellen Beispiel moralisch aufgeladenes Politiktheater gespielt.

2. Mediale Verwertbarkeit

Der “faule Bürgergeldbezieher” funktioniert als Feindbild, in Talkshows, sozialen Netzwerken und Stammtischrunden. Er lässt sich empörungstauglich inszenieren: simpel, aufgeladen, gut teilbar. Eine ideale Projektionsfläche für Frust.

3. Ablenkung von echter Ungleichheit

Während man auf diese „Verweigerer“ zeigt, bleiben ganz andere Fragen außen vor:

Warum können hunderttausende Vollzeitbeschäftigte nicht von ihrer Arbeit leben?

Wie funktioniert ein Arbeitsmarkt, der Millionen Menschen aussortiert?

Warum ist es ohne Erbe (struktureller Wohlstand) fast unmöglich, Vermögen zu bilden? Warum für Erben leichter noch mehr zu bilden?

4. Neidregulierung

In wirtschaftlich angespannten Zeiten wird Sozialneid gerne nach unten gelenkt. Die Wut auf „die da oben“ ist gefährlich, sie könnte zu struktureller Kritik führen. Die Wut auf „die da unten“ ist hingegen systemstabilisierend. Ein alter Trick: Teile die Gesellschaft, damit sie nicht gemeinsam fragt, wem das System eigentlich dient.

5. Politischer Beifang und Verweigerung echter Gerechtigkeit

Parteien, die auf diese 1 % eindreschen, inszenieren sich als „Anwälte der Leistungsgerechtigkeit“, ohne ernsthaft an der Gerechtigkeit zu arbeiten. Es reicht, so zu tun. Und das verfängt.

Der große blinde Fleck – Steuertricks, Cum-Ex & Co

Während der Schaden durch Bürgergeldmissbrauch im Jahr 2022 bei rund 272 Millionen Euro lag, entgehen dem Staat jährlich bis zu 160 Milliarden Euro durch Steuerhinterziehung und legale Steuervermeidung. Allein auf (illegale) Steuerhinterziehung entfallen davon Schätzungen zufolge rund 100 Milliarden Euro.

Der finanzielle Schaden durch Cum-Ex-Geschäfte wird auf mindestens 10 Milliarden Euro geschätzt. Zusammen mit ähnlichen Cum-Cum-Geschäften beläuft sich der Gesamtschaden auf etwa 40 Milliarden Euro.

Die strafrechtliche Aufarbeitung ist komplex und langwierig.  Zahlreiche Verfahren wurden eingeleitet, und es gab bereits Verurteilungen, darunter die des als Drahtzieher geltenden Hanno Berger.

Allerdings kritisieren Experten wie die ehemalige Oberstaatsanwältin Anne Brorhilker die langsame und teilweise ineffektive Strafverfolgung.

(Nein. Die Erinnerungslücke von Olaf Scholz ist hier irrelevant)

Hier nicht mitgerechnet: Schäden die durch die internationale Finanzindustrie entstehen (Zinsmanipulationen, Geldwäsche, risikoreiche Derivate, Wetten auf Kreditausfälle etc)

Die Frage sei hier erlaubt:

“Was passiert, wenn Bürgergeldempfänger um ein paar Euro betrügen”?

Natürlich darf und muss man über Fehlentwicklungen beim Bürgergeld sprechen, aber nicht mit der Lupe auf 1 % und der rhetorischen Abrissbirne in der Hand.

Was wir brauchen, ist Ehrlichkeit

Ehrliche Systemdiagnostik – Wunschdenken

Dass rechtspopulistische Parteien diese Thematik, u. a. mit Rassismus und Lügen, ausschlachten, ist nichts Neues. Leider auch eine bereits hingenommene Realität.

Erschreckend ist, dass christliche Parteien oder Parteien aus dem demokratischen Spektrum diese menschenverachtende Rhetorik mit bespielen.

Ehrlichkeit? Klar. Wenn man die nackten Zahlen erfolgreich in eine Debatte eingebracht hat…

Soweit kommt man meist nicht.

Radweg, nicht nach Peru

Dann kommt automatisch der hysterische Ritt auf Schutzsuchenden, Ukrainer, Asylbewerber und natürlich die Zahlungen, die angeblich unkontrolliert ins Ausland gehen. Entwicklungshilfe oder Kredite sind damit gemeint. Warum und wieso, das ist nie Gegenstand des Einwurfs.

Im gleichen Atemzug werden vorwurfsvoll Tafelnutzer, Obdachlose und arme Rentner vorgeschoben, wenn es um Leistungen für Asyl- und Schutzsuchende geht. Das Ausspielen von bedürftigen Menschen ist zynisch. Und kein Ersatz für strukturelle Ehrlichkeit. Es zeigt eher ein merkwürdiges Menschenbild.

Fazit: Wir machen das nicht nur klaglos mit, wir goutieren es.

Update, Juni 2025:
Die Diskussion um das Bürgergeld ist nicht zur Ruhe gekommen. Stattdessen werden neue „Reformen“ diskutiert – härtere Sanktionen, Umbenennungen, Symbolpolitik. Doch wer genau hinschaut, erkennt schnell: Auch diese Vorschläge stammen nicht aus ernsthafter Sozialpolitik, sondern eher aus dem Wunschkatalog der Populisten.

Die Strategie bleibt: Skandalisieren, Moralisieren, Ablenken.


Faktenquellen:

1. Regelsatz 2024 (Alleinstehende): 563 €
→ destatis.de – Bürgergeld 2024
2. Empfängerzahl April 2023: 5,51 Mio.
→ arbeitsagentur.de – Monatsbericht
3. Kosten 2023: 25,9 Mrd. €
→ tagesschau.de – Bürgergeld-Kosten
4. IAB-Studie (05/2024): -5,7 % Arbeitsaufnahme
→ iab.de – Wirkungen Bürgergeld

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