Laut Studie ist inzwischen die durchschnittliche Aufmerksamkeitsspanne eines Menschen in seinem Internet kürzer als die eines Goldfisches in seinem Glas.
Und die Zeit rennt, aber wir sollten sie uns einfach nehmen. Wir haben das Glas in der Hand.
In Diskussionen stelle ich immer wieder fest, dass es nicht um tieferen Erkenntnisgewinn geht, sondern nur um die Stabilisierung der eigenen Argumente.
Sorry… ich habe mich vertan: nicht Argumente, sondern einzementierte Standpunkte.
Eingebrachte Komplexität wird als Meißel wahrgenommen, der das steinige Fundament ankratzen könnte.
Besonders harte Fundamente werden heutzutage gerne mit toxischen Sharepics und Kurz-Videos – aus dem zynitverseuchten Lehrbuch “Flood-the-Zone-with-Shit” stammend – zusammengesiedet. Hier braucht’s dann schon einen professionellen Bohrhammer, um wenigstens einen 4er-Dübel der Einsicht setzen zu können.
Natürlich spielt auch unser jetziger Zeitgeist eine Rolle. Viele Dinge, wichtige und unwichtige, prasseln mit hoher Frequenz und Dichte auf uns ein. Es bleibt keine Zeit, um sie gedanklich wegatmen zu können.
Man kann jetzt “den Medien” die Schuld geben. Dass sie nur nach Quoten und Clicks gieren würden. Algorithmen die Filterblasen aufpumpen würden. Aber das würde zu kurz greifen, denn wir sind es, die konsumieren. Willentlich konsumieren und uns damit auch empören und manipulieren lassen. Wir sind es, die mit und in gemeinsamer Diskussion unsere Erkenntnisse verbessern können.
Es wäre so einfach …
Rudelresonanz statt Erkenntnis
Leider beobachte ich es immer wieder, gerade in vermeintlich offenen Runden: Sobald man inhaltlich nachfragt, nicht um zu provozieren, sondern um besser zu verstehen, kippt die Stimmung. Es geht nicht um Erkenntnis, sondern um Resonanz im Rudel.
Komplexität ist dort unerwünscht, wo sie die träge Selbstgewissheit stört. Ein zusätzlicher Gedanke wird schnell als Angriff empfunden. Nicht, weil er beleidigend ist, sondern weil er die Anstrengung des Nachdenkens und Differenzierung erfordert. Und das ist heute offenbar schon zu viel verlangt.
Der eigentliche Zynismus: Selbst wenn alle am Tisch wissen, dass das Argument oder eine Stammtischparole gerade kompletter Unsinn war oder die Sachlage mehr Details erfordert, ein Großteil nickt und der Rest schweigt. Weil Widerspruch unangenehm ist und weil es leichter ist, gemeinsam zu schweigen, als gemeinsam “an Etwas” zu denken. Erkenntnis beginnt nicht mit Zustimmung, sondern mit dem Mut, eine bequeme Meinung unbequem zu machen.
Die eigene Meinung unbequem machen?
Das geht hervorragend mit Kritik von Außen, Hinterfragen, Selbstreflexion und Aufnahme von anderen Blickwinkel.
Nur …
Die Immunisierung gegen Denken
In der Fiktion wird eigenes und kritisches Denken oft noch gefeiert, in der Realität hingegen immunisiert. Wer eine andere Perspektive oder mehr Denkmaterial einbringt, stört den Flow. Wer nachfragt, stellt in Frage. Wer widerspricht, wird zum Störsignal in der Echokammer. Das Gegenüber ist dann nicht mehr Gesprächspartner, sondern Reizquelle. Die Aufmerksamkeit springt nicht zur Aussage, sondern zur Person.
Und das Einzige, was dann noch zählt, ist:
„Bist du für mich oder gegen mich?“
Mit diesem Ego-Verdichter wird das Thema nicht weitergedacht – sondern abgeräumt. Ein Meinungsblock landet auf dem Tisch wie ein Schnuller ins Kindermundwerk: Nicht befragen. Bitte bestätigen. Weiter, nächstes Thema. Abhaken der immergleichen Grundaufreger. Fishing for Compliance.
Deswegen sind kritisch und selbstdenkende (oder intensiv) Menschen auch nicht besonders sympathisch: Sie zerklatschen Sandburgen, ziehen den Schnuller raus, hinterlassen Brotkrümel, sind respektlos, verbohrt, arrogant, intolerant, haben ein pathologisches Sendungsbewusstsein und diskreditieren Andersdenkende. Insgesamt könnte man sagen:
Kritiker haben ein besonders schlechtes Karma – und verbreiten das auch noch!
Das Märchen vom Andersdenken
Wobei der oftmals in Diskussionen geäußerte Hinweis auf Anders – und Quer denken sogar noch als Vorteil des offenen und toleranten Denkens vermittelt werden soll. Andersdenken bedeutet jedoch nicht, dass man sein Gehirn ausschaltet, wissenschaftliche Fakten und mehr Tiefe sträflich vernachlässigt, es bedeutet immer noch denken. Eigenes Denken ist so eine Sache, meist wird gerne anders gedacht als man denkt. Das ist ok, sogar manchmal existenziell, aber die Reflexe, wenn es um Bullshitargumentationen geht, sind schon bizarr.
Das Argument „Andersdenken-de“ in der Hand von Bequemdenker:innen und ihre ständige Forderungen nach Toleranz ist die verbohrte Ignoranz, wenn Fragen gegen das eigene Ego gestellt werden müssen. Wenn für Sachfragen etwas Selbstreflektion und dem Denkmuskel etwas Arbeit abverlangt wird. Es ist meist nur der Hinweis auf ein weiteres systemimmanentes Instrument, welches zur Immunisierung gegen berechtigte Kritik beiträgt und jegliche Hinterfragung auslöschen möchte.
Conplexion statt Pro & Contra
Es geht dabei nicht ums “Rechthaben”, sondern um gemeinsamen Erkenntnisgewinn. Und dies erreicht man gerade in gesellschaftlich-politischen Themen kaum mit “Pro” und “Contra”.
Es braucht dazu etwas mehr
“Conplexion”
Die willentliche Einbringung von Komplexität aus allen Ansichten. Nicht zur Verwirrung, sondern zur Verfeinerung. Innerhalb roter Linien gibt es bei dieser Thematik bekanntlich selten nur Schwarz und Weiß. Es ist keine logische Mathematik. Auch wenn es sich manchmal so anfühlt, es ist keine Wissenschaft – und wir müssen deshalb mitreden. Wir können versuchen die Themen zu durchdringen.
Auch Politiker:innen und Entscheider:innen durchdringen sie nicht immer gänzlich. Manchmal steht ihnen das Parteibuch im Wege – oder hilft mangelnde Komplexität zu vertuschen.
Schlechte Lösungen gibt es, wenn man sich nicht bemüht. Gute Lösungen? Vielleicht. Näher dran kommen? Sicher.
Mit Verstehen der jeweils anderen Blickwinkel – weil Menschen immer unterschiedlich von Sachlagen betroffen sind. Und es gibt Kompromisse – erzeugt durch menschliche Emphatie und Kompromissfähigkeit.
Was bleibt?
Unterlässt man das, gibt’s nur die Speisekarte von Dunning-Kruger: Salate ohne Dressing. Schnitzel ohne Soße und ohne Beilagen. Pommes ohne Gewürz. Pizza ohne Belag.
Geschmacklose Welt, die dann niemandem mehr schmeckt…
… das Ziel für die nächste Stammtischparole

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